Eine literarische Pilgerfahrt nach Paris
Auf
den Spuren
großer Schriftsteller und weltberühmter
Architektur
Bericht über eine Studienfahrt nach Paris
25.-28. Mai 1998
Gerhard Mercator Universität Duisburg
Fachbereich 3 Sprach- und Literaturwissenschaften – Romanistik
Herausgeber:
Gerhard Mercator Universität Duisburg Fachbereich 3 Sprach- und Literaturwissenschaften – Romanistik – Dr. Dietmar Fricke
Verantwortlicher Redakteur: Ralf Müller
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Telefon: (0203) 379 2607 Telefax: (0203) 379 1952
E-Mail:
Dietmar.Fricke@uni-duisburg.de
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Liebe Leserinnen und Leser!
Lesen Sie bitte als Ergänzung auch die Broschüren unserer Studienfahrten
nach Paris 1997 "Aus
den Tiefen der Métro zu
kulturellen Höhepunkten" und 1999 "Voyager ça fait avancer". Alle Broschüren liegen auch in gedruckter Form vor und
können bei der o.a. Adresse bestellt werden.
Wir sind Ihnen außerdem dankbar für jeden Kommentar, Hinweis und jede Anregung zu unserer Broschüre.
Schreiben Sie uns, wenn Sie möchten!
Spurensuche im Quartier Latin (5. Arrondissement) mit Ausblicken auf die Pariser Stadtarchitektur
Literarische Pilgerfahrt nach Maule - Besuch bei Claude Ollier
Jugendstil, Art Déco und industrieller Baustil
Auf den Spuren Émile Zolas in Médan
Marivaux´ Le
jeu de l´amour et du hasard
Auch in diesem Jahr hatte Herr Fricke wieder zu einer Exkursion nach Paris eingeladen, um den Studenten, die nicht an der im letzten Jahr durchgeführten Fahrt hatten teilnehmen können, einmalige Einblicke in die Literaturszene der Capitale zu ermöglichen.
Zu Beginn stand das Unterfangen jedoch unter einem denkbar schlechten Stern. Wegen einer zu geringen Teilnehmerzahl drohte die Fahrt ins Wasser zu fallen. Ob dies an mangelndem Interesse seitens der Studenten lag oder auf die anscheinend langwierige und diffizile Informationsverbreitung im Fachbereich zurückzuführen ist, sei dahingestellt. Für die Vorbereitung standen gerade zwei Wochen zur Verfügung.
Es wäre für die Zukunft hilfreich, wenn der Fachbereich Studienfahrten als festen Bestandteil seines Programms ansehen und damit eine frühzeitige Planung ermöglichen würde.
Schließlich überschritten wir doch noch knapp die magische Grenze, wobei anzumerken ist, daß es sich bei mehr als der Hälfte der Teilnehmer um "Wiederholungstäter" handelte, die im letzten Jahr schon mit von der Partie gewesen waren.
Innerhalb dieser knappen Zeit stellte Herr Fricke ein vorläufiges Programm zusammen, führte Telefongespräche, schickte zahlreiche Faxe und schrieb sich die Finger wund. Für die Planung standen uns nur zwei Treffen zur Verfügung; alles mußte furchtbar schnell gehen.
Am 25. Juni war es dann soweit: um 8.00 Uhr morgens trafen sich die sieben studentischen Teilnehmer an der Uni, verteilten sich auf zwei Autos, und ab ging es in Richtung Frankreich. Herr Fricke zog es währenddessen vor, mit der Bahn und seinem äußerst günstigen "Privattarif" (so drückte er es aus) zu reisen.
Na ja, wir kamen alle heil in unserer Unterkunft an, und nach einer kurzen Verschnaufpause sowie dem Einkauf der wichtigsten Notvorräte für die nächsten vier Tage bei "Ed l’Epicier" versuchten wir, gemeinsam Licht in die Komplexität des Programms zu bringen. Nach einer zweistündigen Konferenz auf Zimmer 4 war unser Aufenthalt dann auch schon restlos verplant, und um keine Minute ungenutzt verstreichen zu lassen, schulterten wir unsere Rucksäcke und machten uns auf, unter Herrn Frickes sachkundiger Führung das "Quartier Latin" zu erkunden, wo wir später auch in einer kleinen Seitengasse zu Abend aßen; vgl. hier und im folgenden die Einzelberichte.
Vom erbarmungslos schellenden Wecker aus viel zu kurzen Träumen gerissen, stand am nächsten Morgen ein Termin bei "Gallimard" an. Da wir anschließend in Maule mit dem Schriftsteller Claude Ollier verabredet waren, beschlossen wir, direkt mit dem Auto loszufahren. Eines habe ich gelernt: fahre niemals mit dem Auto durch Paris. Gerade wenn man meint, das Ziel sei zum Greifen nahe, taucht plötzlich eine Einbahnstraße auf, und man wird "tout doucement" in die genau entgegengesetzte Richtung geleitet. Sollte man das Glück haben, einen Parkplatz zu ergattern, liegt dieser garantiert in ausreichend großer Entfernung vom anvisierten Ziel, so daß man bestimmt zu spät kommt. Nun, wir trafen doch noch einigermaßen pünktlich bei "Gallimard" ein, wo unsere Gruppe herzlich empfangen wurde. Das ca. anderthalbstündige, anregende Gespräch mit einem Vertreter des Verlagshauses war mehr als eine Entschädigung für die vorausgegangene Irrfahrt durch die Straßen von Paris.
Auf dem Weg nach Maule zeigte sich Herr Frickes ausgeprägtes
Kartenlesetalent. Seine drei wichtigsten Prinzipien scheinen zu sein:
1. Telefoniere grundsätzlich an den wichtigsten Stellen.
2. Nimm Pannen (Verfahren etc.) gelassen hin ("Ich glaube, wir hätten da
hinten rechts gemußt") und laß Dich vor allem durch gröbere
Verkehrsverstöße nicht aus der Ruhe bringen ("Le feu était au rouge, mais
ce n’est qu’un détail").
3. Nutze ausweglose Situationen, um die Stadt neu zu entdecken, und tu so, als
sei der Umweg beabsichtigt.
An dieser Stelle ein großer Dank an unsere Autofahrer, die uns trotz widriger
Umstände stets sicher ans Ziel brachten!
Nach dem Gespräch mit Claude Ollier, einem sehr liebenswürdigen älteren Herrn, ließen wir den Tag gemütlich bei einem Käsefondue ausklingen. Der von Herrn Fricke spendierte Wein regte zu teilweise etwas hitzigen Diskussionen an...
Der nächste Morgen stand zur freien Verfügung und wurde von den
Exkursionsteilnehmern auf unterschiedlichste Weise genutzt. Manche ergriffen
die Gelegenheit, um endlich einmal den Eiffelturm von Nahem zu sehen, einige
wandelten auf den Spuren der Architektur und suchten Balzacs Kaffeekanne,
andere wiederum deckten sich mit Literatur ein.
Nachmittags statteten wir dem "Maison Émile Zola" einen Besuch ab und
warfen anschließend einen Blick auf das idyllische St-Germain-en-Laye mit
seinem imposanten Schloß.
Den Abend beendeten wir im "Théâtre des Amandiers" bei Marivaux´ "Le jeu de l’amour et du hasard". Für diejenigen Studenten, die auf Herrn Frickes Kartenlesekunst angewiesen waren, schloß sich noch eine kurze Rundfahrt durch "La Défense" an...
Der Donnerstag stand schon im Zeichen der Heimreise. Um 10.00 Uhr waren wir zu Gast bei Patrick Kéchichian, einem Literaturkritiker bei "Le Monde", danach trennten sich unsere Wege. Bei nicht wenigen riß der rasch noch eingeschobene Besuch der FNAC ein Loch in den Geldbeutel.
Tja, jetzt soll ich mir ein schlaues Schlußwort einfallen lassen. Ein Pauschalurteil zu fällen fällt mir schwer. Ich denke, jeder hat auf seine Art zum Gelingen der Exkursion beigetragen: unsere unermüdlichen Fotografen, unsere todesmutigen Fahrer, all diejenigen, die sich mit den Eigenheiten des "Nouveau Roman", insbesondere mit Claude Ollier, intensiv auseinandergesetzt haben und allen Studenten, die durch ihre Teilnahme an der Exkursion gezeigt haben, daß ein Französischstudium durchaus seine praktischen Seiten haben kann. Besonderer Dank gebührt natürlich Herrn Fricke, der voller Energie an das Unternehmen herangegangen ist.
Abschließend glaube ich sagen zu können, daß die diesjährige Fahrt sowohl fachlich als auch persönlich ein großer Gewinn war, und vielleicht "on se couche un peu moins bête".
Nadine Rentel
Spurensuche im Quartier Latin (5. Arrondissement) mit Ausblicken auf die Pariser Stadtarchitektur
Montagnachmittag, den 25. Mai 1998
"Theorie kann man nicht sehen" – so hat Hans Blumenberg in dem Lachen der Thrakerin die Problematik des Abstrakten auf den Punkt gebracht. Aber man kann sie erklären, deuten, an greifbaren Trägern der Erinnerung veranschaulichen. Das gilt für den Umgang mit Literatur, so wie wir es im Kontakt mit Autor, Verlag und Literaturkritik versucht haben; das gilt auch für die Landeskunde, insbesondere für die Stadtarchitektur. Der Gang zu den Monumenten und Denkmälern, die Erkundung ihrer geographischen wie architektonischen Verortung, die historische wie mythische Bedeutung sollten exemplarisch im Quartier Latin, das sich im wesentlichen im 5. Pariser Arrondissement findet, durchgeführt werden. Der historische Begriff, seine Lage auf dem rive gauche, weisen es aus als Inbegriff des französischen Geistes, wurde doch dort im Lehrbetrieb bis zur Französischen Revolution Latein gesprochen. Bekanntlich konzentrieren sich hier und in benachbarten Vierteln bis heute Verlagshäuser, Buchhandlungen, Zeitungsredaktionen.
Entgegen der historischen Entwicklungen haben wir unsere Spurensuche nicht
an der Seine, an der Ile de la Cité, begonnen, sondern auf dem wohl wichtigsten
Hügel der Stadt Paris, auf dem"Montagne Ste-Geneviève".
Von der
RER-Station Luxembourg kommend, haben wir die Rue Soufflot genommen: der Name
des Architekten bereitet damit den Blick auf das Panthéon, das jenen Hügel
krönt, schon vor. Dabei wurde die Mythik der Stadtgründung gedeutet – die
Anzahl "sieben" verweist darauf (wieviele Hügel hat Paris wirklich?)
– , die Rolle und Funktion der Stadtpatronin erklärt, Ort und Bedeutung des
Panthéons erläutert. Die gallisch-römische Stadtgründung wird im dritten
Jahrhundert, d. h. mit Beginn der Evangelisierung des Hl. Dionysos (St-Denis),
von einer Christianisierung der Stadtkonzeption überlagert. Ste-Geneviève hatte
im fünften Jahrhundert die damalige Bevölkerung von Paris davon abgehalten, vor
den Hunnen zu fliehen; bekanntlich wird dann Attila 451 auf den Katalaunischen
Feldern besiegt. So wird der Hügel, der heidnischen Kultstätten gedient hatte,
zu Ehren der Stadtpatronin umbenannt und religiös und kultisch neu definiert.
Im Jahre 520 wurde an der Stelle des heutigen Panthéons eine entsprechende
Stätte für die neue französische Heilige errichtet. Von da wurde die weitere
Geschichte und Funktion jenes Panthéons erläutert, nämlich von Ludwigs XV.
Initiative im Jahre 1744, als Dank für seine Genesung, am höchsten Ort des rive
gauche eine monumentale Gedenkstätte zu errichten; nach der Fertigstellung im
Jahre 1798 wird aus verständlichen Gründen 1791 die religiöse Stätte
säkularisiert und als endgültiger Gedächtnisort für die "grands
hommes" eingerichtet; die Frauen sind bekanntlich in dieser Hinsicht eher
vernachlässigt worden...
Auf dem Gang zum Hügel zeigte der Verlauf der rue St-Jacques die zentrale Nord-Süd-Achse, die eben über jenen Hügel führt (lat. cardo). Das erklärt zugleich die Anwesenheit von St-Michel, an dessen Boulevard (Boul’Mich) wir ausgestiegen waren: er ist der Schild gegenüber dem Bösen, das man aus dem Norden kommend vermutete; nach ihm die erste Brücke benannt. Entsprechend weist der Tour St-Jacques nach Süden, lädt ein zu den zentralen Pilgerstätten der Christenheit: Jerusalem, Rom und eben Santiago de Compostela.
Rings um das Panthéon fanden wir die Bibliothèque Ste-Geneviève, einige der Grand Lycées; auch konnte aus biographischen Gründen der Hinweis auf die Ecole Normale Supérieure (45, rue d’Ulm) nicht unterbleiben.
Wichtiger
war jedoch der Besuch eines architektonischen Juwels, einer einzigartigen
Kirche auf diesem Hügel: St-Etienne-du-Mont. "L‘église ne ressemble à aucune autre", heißt es im Guide Vert
Michelin von Paris (1996: 253).
Die auffälligsten Merkmale sind zunächst die für Frankreich eher seltenen
Bauformen eines gothique flamboyant – Gelegenheit, einige Begriffe der
Architektur zu erläutern, wie "clé de voûte" u. a. Ferner findet sich
in dieser Kirche eine Besonderheit, die sonst nirgends in Paris mehr auffindbar
ist: es ist der Lettner, französisch übrigens "jubé", eine
prachtvolle Chorschranke in der gelungenen Stilmischung aus Renaissance und
Klassik. Überraschend war für alle ferner die Beobachtung, daß das Hauptschiff
der Kirche gegenüber der Mittelachse leicht versetzt ist; diese
Unvollkommenheit mag der Spiritualität des Ortes durchaus zugute kommen. Nun
birgt dieses Denkmal, das Spuren vieler Jahrhunderte aufweist und verarbeitet,
auch Zeugnisse, die jene eingangs besprochene Abstraktheit versinnbildlichen.
So
findet sich zum einen in einer rechten Seitenkapelle der Schrein der Hl.
Genoveva, zum andern verweisen Inschriften auf den beiden Ecksäulen des Chors
auf die Überreste von Racine und Pascal. Damit wird St-Etienne-du-Mont auch zu
einem, um mit Pierre Nora zu sprechen, "lieu de mémoire".
Zu
solchen "lieux" oder Örtern gehören dann im folgenden die Sorbonne
und ihr kritischer Widerpart, das Collège de France. Während das letztere sich
wegen Umbau jedem geführten Besuch verweigert, ist die Sorbonne dem Passanten
jederzeit offen. Der Blick in den Innenhof gestattete einen kurzen Aufriß der
frühen Universitätsgeschichte seit etwa 1200, erweitert mit einigen Hinweisen zur
Gründung im Jahre 1257; auch wurden die Ereignisse von 1968 angesprochen,
endlich auf die heutige Situation hingewiesen, die inzwischen 17 Universitäten
in Paris und Umgebung kennt. Auf die Gründung des Collège de France unter
François Ier und seiner Rolle bis heute konnte nicht mehr eingegangen werden.
Der
geschichtlich orientierte Rundgang mußte auf Grund natürlicher Erschöpfung
unterbrochen werden, das sollte auch an historischem Ort geschehen: wir ließen
uns im Hinterhof des Café Procope nieder, jenes von dem sizilianischen Edelmann
Francesco Procopio gegründeten Kaffeehauses, des durch die Literatur
unsterblich gewordenen Treffpunktes von Intellektuellen und Revolutionären.
Hier konnte dank Omelett und bière pression die Rekreation der Gruppe stattfinden, übrigens durchaus im Respekt zu dem genius loci. So stand schon im Dictionnaire de Paris von 1779 folgendes dazu zu lesen: "Les cafés sont fréquentés par d’honnêtes gens qui vont s’y délasser des travaux de la journée [...] On n’y souffre personne de suspect, de mauvaises mœurs [...] ni qui ce soit qui pourroit troubler la tranquillité de la société." (A. Fierro: Histoire et Dictionnaire de Paris 1996: 742 f.). Doch war damit unser Tagwerk noch keineswegs beschlossen. Die landeskundliche Spurensuche sollte uns noch weiterführen, diesmal zur zweiten große Pariser Achse, jene die von Ost nach West (lat. decumanus) verläuft.
Die Route leitete uns zur Seine, ging über die Pont des Arts, hinein in den
Louvre. Da eine der Teilnehmerinnen zum ersten Mal in Paris war, war gerade die
Veranschaulichung der Stadtarchitektur angebracht. Paris ist in dieser Hinsicht
ein ausgezeichneter Ort, wenn nicht der hervorragendste. Wir nahmen an der
Reiterstatue Ludwigs XIV. unseren Standpunkt ein.
Dabei
hatten wir Peis Pyramide, eine der "grand travaux" des
"Herkules" Mitterrand, im Rücken, d. h. der Blick kam von Osten, von
dem das Licht ausgeht, wo sich die Ile de la Cité mit Notre Dame findet. Er
folgt dem natürlichen Weg der Sonne, richtet sich nach Westen, was zu einem
zentralen Erlebnis führt: "une perspective grandiose", umschreibt
unser Reiseführer S. 145 die Sicht auf die "voie triomphale".
In der Tat, Der Blick wird durch den Arc de Triomphe du Carrousel geleitet,
stößt auf den Obelisk inmitten des Place de la Concorde, wird weiter geführt
zur den leicht ansteigenden Champs Elysées – der mythische Klang des Namens
hält dem Touristenrummel
schon lange nicht mehr stand –, fällt auf den Arc de Triomphe, der wiederum den
Blick freigibt auf La Grande Arche de la Fraternité – auch hier hat Mitterrand
seine Spuren hinterlassen – , um sich vorbei an La Défense auf dem Weg der
Sonne in vage Fernen zu verlieren. Es war dabei ein glücklicher Zufall, daß
alle zum ersten Mal den goldenen Aufsatz des 33 Jahrhunderte alten Obelisks
sehen konnten, zugleich ein symbolträchtiger Zufall, daß die Sonne, die gerade
unterging, dort ihre letzten Strahlen reflektierte.
Nach dem Sonnenuntergang lockten uns noch die erleuchteten Säulen von Buren; vorbei an der Comédie Française, an Molières Theater, kamen wir hierzu noch rechtzeitig; doch war der dahinterliegende Palais Royal schon abgeriegelt. Auch das, blickt man auf die wechselvolle Geschichte dieser Kolonadenarchitektur, ein symbolischer Ausklang. Geschichte kann man nicht sehen, aber man kann ihren Spuren folgen, sie damit im eigentlichen Wortsinn be-greiflich machen.
Dietmar Fricke
Besuch am Dienstag, den 26. Mai 1998
Das Verlagshaus Gallimard, in der rue Sébastien-Bottin No 5, im 7. Arrondissement von Paris gelegen, ist wohl eines der ehrwürdigsten Verlagshäuser Frankreichs, sicher das mit dem größten Prestige. Denn blickt man auf berühmte Namen der französischen Literatur dieses Jahrhunderts, dann findet sich fast immer als Verleger Gallimard; Minuit, Grasset, Flammarion stehen da eher in der zweiten Reihe. Die Erwartungen an den Besuch des Hauses waren naturgemäß hochgespannt.
Nach einer schwierigen Suche nach einem nicht zu entfernten Parkplatz kamen wir noch einigermaßen pünktlich zu dem Treffpunkt, zu einem eher unscheinbaren und versteckt gelegenen Gebäudekomplex, wo der Verlag beheimatet ist. Freundlicherweise hatte sich Monsieur Eric Vigne bereit erklärt, unsere Gruppe zu empfangen.
In einem unauffälligen Gesprächsraum hat er
uns über eine Stunde lang kompetent und beredt, freundlich und zuvorkommend,
über Geschichte, Verlagsprogramme und -projekte des renommierten Hauses
Auskunft gegeben. M. Vigne selbst zeichnet übrigens innerhalb des Verlages verantwortlich
für die Collection Sciences humaines; über seine zweifellos interessante
Vergangenheit im Umfeld der Ereignisse von 1968 hat er sich bis auf einige
Anspielungen diskret ausgeschwiegen.
Im folgenden seien einige wesentliche Punkte aus Vortrag und anschließender
Diskussion wiedergegeben.
Der Verlag Gallimard wurde 1911 von dem Finanzmann Gaston Gallimard gegründet und sollte den Autoren der Zeitschrift La Nouvelle Revue Française als Verleger ihrer Romane und Novellen dienen. Man muß dazu bemerken, daß die Verlagslandschaft zu dieser Zeit eher dünn besiedelt war. Die lange und erfolgreiche Existenz ist jedoch nicht das Hauptmerkmal des Verlages, denn es gibt weitaus ältere Verleger, wie zum Beispiel Larousse oder Hachette.
Außergewöhnlich jedoch ist, daß das Verlagshaus bis heute keiner übergeordneten Verlagsgruppe (in Deutschland zum Beispiel Bertelsmann) untergeordnet ist, sondern es geschafft hat, unabhängig zu bleiben. Denn in Frankreich dominieren heute zwei Verlagsgiganten, die Presses de la Cité und Hachette, die jeweils 35 – 40% aller Neuerscheinungen publizieren. Gallimard veröffentlicht von den restlichen 20% über die Hälfte. Soweit zur Quantität des Verlagswesens.
Inhaltlich ist das Verlagsprogramm Gallimards sehr breit gefächert; es reicht von klassischen Autoren des In- und Auslands von den Anfängen bis zur Gegenwart und bestreitet gerade hier wesentliche Neuerscheinungen. So kann unser Gewährsmann stolz berichten, daß trotz der eigentlich geringen Größe des Verlages die wichtigsten Neuerscheinungen Frankreichs und des Auslands bei Gallimard betreut und gedruckt werden.
Das gelte auch für moderne deutsche Klassiker; hier finden sich zum Beispiel Günter Grass, Heinrich Böll, Ernst Jünger und Christa Wolf; ihr letzter Roman Trame d'Enfance (Coll. Folio, erschienen 4/91) war mit einer Auflage von 50.000 ein überraschender Erfolg. Als Hauptmerkmal des Verlagshauses darf daher auch die Sensibilität für die Literatur des nicht nur europäischen Auslands gesehen werden.
Insgesamt verleiht das vergleichsweise hohe Editionsniveau dem Verlag einen eher universitären Charakter. So arbeitet die Leitung intensiv mit deutschen Verlagen zusammen, wie zum Beispiel mit Suhrkamp, Pieper, Hanser, Diogenes und Rowohlt, da diese mit dem Verlagsprogramm Gallimards über große Schnittmengen verfügen.
Ein weiterer Schwerpunkt des Verlagsprogramms sind die Humanwissenschaften (Soziologie und Psychologie), obwohl dieser Bereich mit meist nur 4.000 Exemplaren pro Auflage eher eine intellektuelle Herausforderung als einen kommerziellen Erfolg darstellt. Dazu muß man bemerken, daß sich im Bereich der Humanwissenschaften die Situation in Frankreich anders darstellt als in den anderen europäischen Ländern. In Frankreich existiert kein Wissenschaftsverlag, der sich um kritische Ausgaben bemüht, wie zum Beispiel der UTB-Verlag in Deutschland. Das Beispiel der Presses Universitaires de France (PUF) zeige, daß hier ebenso kommerziell gedacht werden müsse wie auch bei Gallimard. So kommt es, daß auch Gallimard Texte für die Universität auf den Markt bringt.
Die Situation des Verlags ist nicht leicht; sie stellt einen ständigen Balanceakt zwischen Bestsellern mit starker Verkaufskraft dar, wie etwa Jean d'Ormesson (z. B. Presque rien sur presque tout; La douane de mer; oder man denke auch an seine alternative Literaturgeschichte) oder Jean-Marie Le Clézio (Déluge, Balaabilou; Désert), um nur einiges zu nennen und eben experimenteller Literatur. Allerdings hätten auch absolute Neulinge in der Welt der Schriftsteller gelegentlich das Glück, bei Gallimard verlegt zu werden, nicht selten mit ihrem Erstlingswerk; das würde ein Blick auf die Liste der Literaturpreise belegen...
Durch das Verlegen von Bestsellern, experimenteller und universitärer Literatur, moderner und klassischer Poesie, erreicht der Verlag ein breitgefächertes Programm hinsichtlich Stil und Sprache. Ausführliche Erwähnung fanden auch so originelle Collections wie Découvertes und natürlich die Prestigeausgaben der Pléiade.
Auch auf die neuen Medien hat sich Gallimard mit einer CD-ROM für den medizinisch-wissenschaftlichen Bereich als Erstlingswerk oder etwa dem umfangreichen Programm der Klassiker auf CD-ROM, wie zum Beispiel Le petit Prince von St-Ex. eingestellt. Ein weiteres interessantes Programm ist in Arbeit: In diesem möchte Gallimard dem Leser über das Internet eine bestimmte Auswahl an Literatur zugänglich machen, die dann aus dem Netz heruntergeladen werden kann und mit Hilfe des eigenen Druckers wieder zum Buch wird. Nur der schöne Gallimard-Einband fehlt dann...
Miriam Struck
Literarische Pilgerfahrt nach Maule
Besuch bei Claude Ollier
Dienstagnachmittag, den 26. Mai 1998
Claude Ollier gehört zu den Gründerautoren des Nouveau Roman. Blickt man zurück auf die Zeit der Literatur-Kolloquien und -Veranstaltungen, auf die Literaturgeschichten und Monographien, Claude Ollier ist mit seinem Romanwerk und seinen Erzählungen, mit seinen Essais und kritischen Beiträgen eine der führenden Gestalten jener Bewegung, zu denen vor allem Nathalie Sarraute, Michel Butor, Alain Robbe-Grillet, auch Claude Simon gehören. Einige von ihnen sind zur Legende geworden, schreiben längst nicht mehr. Das trifft sicher zu für Robbe-Grillet, der kürzlich noch in Essen seinen Beitrag zur modernen klassischen französischen Literatur als endgültig vorstellte. Andere haben längst die Etikettierung jener Zeit hinter sich gelassen: dazu gehören der Nobelpreisträger Simon, auch die inzwischen fast hundertjährige Nathalie Sarraute – und eben Claude Ollier; sein letztes Werk, Aberration, ist erst kürzlich erschienen (Paris: P.O.L. 1997).
Diesen bedeutenden Autor, wie Robbe-Grillet Jahrgang 1922, hatte ich kürzlich in Köln getroffen; die Subtilität seines Diskurses fand ich beeindruckend, so daß ich Ollier bat, uns anläßlich der Exkursion für einen Besuch und ein Interview zur Verfügung zu stehen. Er hat ohne Zögern zugesagt.
Um sich auf diesen Besuch vorzubereiten, hat die Gruppe private wie öffentliche Exemplare des Werkes von Ollier besorgt, einiges davon gelesen. Aber die Reaktionen waren eher gleichlautend: zu schwer, zu unverständlich, zu kompliziert.
Andererseits
war die Neugier entsprechend groß zu sehen, wie jemand lebt, der so
differenziert schreiben kann und nie auf Bestsellerlisten gestanden hat. Mit
diesen widersprüchlichen Gestimmtheiten haben wir uns nach Maule begeben, einem
kleinen Flecken in der Île de France, übrigens unweit von Médan, der
Wirkungsstätte E. Zolas (s. entsprechenden Bericht).
Als wir zum vereinbarten Termin durch seinen kleinen Vorgarten schritten,
kam uns Claude Ollier freundlich entgegen, hieß uns willkommen und bat uns
einzutreten. Ein bescheideneres Haus ließe sich kaum vorstellen. Wir gingen
durch einen kleinen Vorraum, der als Küche und Waschküche diente, betraten
einen schlichten Wohnraum, der mit gänzlich unauffälligem Mobiliar ausgestattet
war. Außergewöhnlich waren vielleicht das einzige (!) Buchregal, in dem sich
frühe Ausgaben von Jules Verne und anderen Erfolgsautoren des 19. Jahrhunderts
fanden; gegenüber stand ein Klavier. Als zwischendurch der Schlosser kam, um
einen Zylinder auszutauschen, wußten wir, daß auch ein großer Autor in einer
kleinen Alltagswelt lebt...
Nachdem ich die Gruppe vorgestellt und unser Interesse an diesem Besuch erläutert
hatte, konnte die Unterhaltung beginnen. Sie umfaßte eine Fülle von Themen, die
sich meist aus Fragen und Rückfragen ergaben.
Zum Einstieg teilten wir dem Autor mit, daß wir überrascht gewesen seien, daß noch einige seiner frühen Werke greifbar seien, beispielsweise La mise en scène. Ollier nahm dies gleich zum Anlaß, sich sehr kritisch zum Literaturbetrieb zu äußern: ca. zehn seiner Werke seien längst vergriffen, andere seien sogar eingestampft worden. Ähnlich wie wir schon im Hause Gallimard erfahren hatten, erscheint auch ihm die Zukunft des Buches, der Literatur mithin, besiegelt: in 20 Jahren sehe er schon keine Leser mehr. Zwar könne man noch 100, 200 Jahre lang weiterschreiben, aber nur Leichtes, was keine Literatur mehr sei. Bücher seien Gegenstände, die man nicht mehr brauche; er selbst habe ohnehin wenig mit seinen Büchern verdient.
Die ersten Fragen hinsichtlich seines Werks zielten naturgemäß auf seine Zugehörigkeit zum Nouveau Roman, auf seine Rezeption; immerhin hatte kein Geringerer als Michel Foucault sich zu seinem Werk geäußert. Doch erfahren wir insgesamt eine abwehrende Haltung gegenüber diesen eingangs wiedergegebenen "références". Zum einen hält Ollier Foucaults Text für hilfreich, spricht dem Strukturalismus keineswegs interessante Erkenntnisse ab, in diesem Falle die Aspekte der Räumlichkeit; zum andern hält er Sammelbegriffe wie Nouveau Roman, École du regard, für wenig hilfreich: damals war das eine große Inszenierung, gesteuert durch die Verlage und die Medien. Man kannte sich von den Kolloquien her, fühlte sich zugehörig, man denke beispielsweise an Cerisy-la-Salle. So erinnert sich Claude Ollier an Butor, Sarraute, Robbe-Grillet, Ricardou, Simon u.a. Sie alle seien sehr unterschiedlich; aber es sei leichter, von einer Gruppe als von Individuen zu reden; Vergleichbares habe es längst bei den Surrealisten gegeben; im Gegensatz zu letzteren gebe es allerdings keine großen gemeinsamen Manifeste. Im übrigen habe er mit andern zusammen im Casino von Cerisy sein Geld verspielt...
Unser Gastgeber nutzt die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß er von der Literaturkritik nicht allzuviel hält. Er selber habe weder Literatur noch Philosophie studiert, wohl aber ein wenig Wirtschaft, er sei eher wie die Amerikaner Autodidakt. Im übrigen habe er erst im Alter von 33 Jahren angefangen, ernsthaft zu schreiben. Vorher habe er 10-15 unterschiedliche Berufe ausgeübt; einige dieser Erfahrungen finden sich niedergelegt in seinem Roman Déconnection. Dabei erfahren wir, daß im Herbst 1998 eine neue Auflage erscheinen wird, diesmal unter dem richtigen Titel Obscuration. Dieser Roman leiste die Überlagerung zweier Geschichten, die eine spiele sich während des Ersten Weltkriegs ab, die andere wird um 80 Jahre in die Zukunft versetzt, und am Ende berühren sich beide, um in der militärischen, politischen, wirtschaftlichen, rassistischen, ökonomischen, ökologischen und elektronischen Katastrophe zu enden. Ein nicht ganz abwegiges Szenario für unser fin de siècle, damit eine nicht leicht zu befolgende Einladung zur Lektüre... Auf alle Fälle wird deutlich, daß der inzwischen 75jährige Autor sehr genau über die aktuelle Situation, vor allem auch in Deutschland, informiert ist; seine Reisen hat er noch nicht eingestellt, wie er uns mehrfach versichert.
Ute Berning stellt die zentrale Frage, die die Erfahrungen aller resümiert: warum sind seine Texte so schwierig, woher rühren die großen Verständnisschwierigkeiten, welche Bedeutung kommt seinen stilistischen Besonderheiten zu? Die Antwort des Autors fällt sehr umfassend aus. Auch ihm ginge es ähnlich, daß er beim Wiederlesen seiner Texte sich sagen müsse, daß er nicht gerade einfach schreibe. Aber die Intentionen stellt er klar heraus, etwa daß er in seiner "écriture" immer mehrere Bedeutungsebenen anstrebe, daß es ihm um ein Neuschaffen der Sprache gehe; so zeigten sich in seinen Texten eine Fülle von "idiotismes français courants", die mit sehr gesuchten, auch häufig erfundenen Wörtern zu einer literarischen Einheit verschmölzen. Da gibt es ein verwirrendes Nebeneinander von herkömmlichen Sprachelementen und Artikulationen von hoher Prägnanz. In jedem seiner Romane gebe es eine Anhäufung vieler Sprachen: "On écrit jamais dans une seule langue." Er versteht also den Verzweiflungsschrei: "Sur quel pied danser?" Die Antwort auf die Frage, wie lange er an einem Werk schreibe, machte deutlich, daß die Zeit letztlich zu einem undefinierbaren, damit irrelevanten Faktor gerät. Der Reifeprozeß könne nicht gemessen werden; manchmal dauere es lange, bis die Zeit reif sei. Sehr konkret hieß es aber, daß der Schriftsteller in allen Lebenslagen schreibe, allerdings nur mit der Hand, nie mit Schreibmaschine oder Computer; hier zeigt sich eine direkte Beziehung zu dem manuellen Tun, das das Schreiben für ihn ausmacht.
Wir befragen ihn nach dem eigentlichen Schreibprozeß. Claude Ollier benennt eindrücklich die Schwierigkeiten bei diesem kreativen Vorgang. Der Anfang einer Geschichte, eines Buches, sei immer äußerst schwierig, häufig brauche er Tage. Einmal habe er die Idee gehabt, einen ganz langen Satz zu schreiben, der sich dann auf mehrere Seiten ausgedehnt habe. (An dieser Stelle sei der Kommentar erlaubt, daß es Frédérique Clémenceau in Saletés, 1998, auf wesentlich mehr Seiten bringt; gibt es da Beziehungen, Gesetzmäßigkeiten?). Es sei ein Problem der Wörter, nicht der Dinge, die Wörter schaffen die Dinge, nicht umgekehrt. Wichtig war dem Autor auch der Hinweis, daß man beim Schreiben in bester physischer und psychischer Verfassung sein müsse; sonst sei man der harten Arbeit des Schreibens nicht gewachsen, auch müsse der Schriftsteller das Kratzen des Stiftes auf dem Papier spüren.
Der Versuch, Claude Olliers narrative Texte auf Formen des Biographischen festzulegen – etwa in Anlehnung an das Spätwerk von Sarraute und Robbe-Grillet – , scheitert. Gewiß schlügen sich Erlebnisse in seinem Werk nieder, konzediert der Autor, aber es sei unmöglich, sich genaue Rechenschaft über sein eigenes Leben abzulegen. Es gehe immer nur um "recomposer"; das sei bei Flaubert oder auch bei Kafka nicht anders; sonst bewege man sich auf einer "fausse piste". Seine Romane bestünden letztlich aus "idées de fiction", aus einigen Erlebnissen von Reisen, aus herkömmlichen Beschreibungen wiedererkennbarer Gegenstände... Selbst wenn man einzelne biographische Elemente entdecke, so habe das wenig Sinn; in dem einleitenden Spaziergang in Aberration beispielsweise resümiere sich vielleicht die Erfahrung von 20 Erlebnissen vergleichbarer Natur.
Aberration rückt bei den gemeinsamen Überlegungen immer mehr in den Mittelpunkt der Unterhaltung. Die Vermutung, dieses Werk zeichne die Überblendung zweier Kulturen, nämlich Okzident und Orient, nach, wird von Ollier akzeptiert. Aber er sieht die Problematik ganz grundsätzlich. So entwickelt er gelehrt und engagiert die Geschichten der beiden Kulturen, wartet mit einer eindrucksvollen Fülle im Detail auf, besonders hinsichtlich der islamischen Kultur. Er hat die Perspektiven verkehrt, d.h. gelernt, die westliche Kultur aus arabischer Sicht zu betrachten. Dazu hat er Arabisch gelernt; einigen von uns hat er als Widmung eine Sure des Korans eingetragen; en exergue findet sich die 26. in Aberration. Aufschlußreich ist sein Zugang zum Arabischen: in dieser Sprache sei eine erstaunliche Algebra am Werk.
Durch weitere Nachfrage ergeben sich für das Verständnis des Romans durchaus
neue Interpretationsansätze. Aberration schildere den Weg des Reisenden
auf den Spuren der arabischen Eroberer, von Nordafrika, über Gibraltar – bis
Poitiers. Gerade diese Geschichte liegt Claude Ollier sehr am Herzen. Er
spricht von einer "culture refoulée." Engagiert, ja enragiert
zeichnet er den Weg nach, den die griechische Kultur zu den Europäern genommen
hat: der Weg führe von Nordafrika über die Araber, nach Andalusien zu den
islamischen Zentren in Granada, Toledo, Córdoba; er schildert jene
jahrhundertelange fruchtbare convivencia, d. h. das kulturelle
Zusammenleben von Arabern, Juden und Christen. Von hier aus sei die
abendländische Kultur in Religion und Literatur durch Übersetzung und
Verbreitung auf uns gekommen; er findet harte Worte für das Zerstörungswerk der
Reconquista. Die Folgen zeigten sich nicht nur in Spanien, sondern auch in
Frankreich. Man kenne in seinem Land die japanische Kultur besser als die
arabische, die doch nur zwei Flugstunden entfernt sei. Juan Goytisolo lobt er
in diesem Zusammenhang als Kämpfer gegen das Vergessen in Spanien; auch von
Borges ist in diesem Zusammenhang die Rede. Seine kritische Haltung in dieser Frage resümiert Ollier selbst am besten:
"Rétablir cette vérité que les Européens ont ignorée, bafouée depuis si
longtemps".
In diesem Licht wird auch in Aberration eine scheinbar belanglose Begegnung, die in Ronda stattfindet, verständlich: die beiden Wissenschaftler, die sich längst von ihren Disziplinen verabschiedet haben, kennen einander in Wirklichkeit nicht; das Kolloquium, an dem beide teilgenommen hätten, behandelte ein Schlüsselthema des Ollierschen Werkes: "la mémoire". So wird abschließend auch die Vieldeutigkeit des Titels Aberration offenbar: es geht um Abweichungen, im Optischen, Astronomischen, wohl auch um die beim Menschen, der hier Rost heißt, dann um Abweichungen und Umleitungen bei seiner Reise. Auf den Vorschlag, jenen Begriff auf die Abirrung der historischen Fehlentwicklung auszudehnen, reagierte Ollier nur mit: "Je n’y ai pas pensé". Intertextuelle Beziehungen, so zu Cervantes, zu Numantia, zu modernen Cineasten, zu den feuilletons im französischen Fernsehen, zu Interpretationen von J. S. Bach – all das nehmen wir als Anregung mit, Aberration noch genauer zu lesen...
Gewissermaßen
"aberrant" war auch die Jugend Claude Olliers, verbrachte er doch
einen Teil davon in Deutschland, und zwar gegen Ende des Krieges, gepreßt im Service
de Travail Obligatoire. Davon zeichnet der Autor nach über 50 Jahren ein
eher düsteres Bild; selbst Verhöre der Gestapo sind ihm nicht erspart
geblieben, wenn er hier auch die überraschende Beobachtung einer
"planque" machte, d.h. es lebte sich besser bei der Gestapo als an
der Ostfront...
Um auf einer eher positiven Note hinsichtlich unseres Herkunftslandes zu
schließen, nahm ich Überlegungen zur Musik Bachs auf und spielte einen seiner
Choräle auf dem Klavier.
Anschließend zeigte uns Claude Ollier seine anfangs erwähnten Bücher, sprach
von den Prägungen, die er dadurch erfahren hatte. Der Abschied nach mehr als
zwei Stunden spielte sich in seinem Vorgarten ab; hier durften wir dann auch
Aufnahmen machen.
Wie bei meiner ersten Begegnung, so muß es auch der Gruppe ergangen sein:
sie war von Claude Ollier sehr beeindruckt; sie wird jetzt sein Werk gewiß
besser verstehen und schätzen, seine ungebrochene Aktualität begreifen, den Mut
zur lecture bzw. relecture finden. A suivre...
Dietmar Fricke
Jugendstil, Art Déco und industrieller Baustil
Moderne Architektur im 16. Arrondissement
Im 16. Arrondissement lassen sich eine ganze Reihe von Gebäuden finden, die von berühmten Vertretern der modernen Architektur errichtet worden sind, wie z.B. Le Corbusier, Hector Guimard und Robert Mallet-Stevens.
Unser
Rundgang beginnt an der Métro-Station Jasmin. Wir folgen der rue Jasmin, in der
wir bereits zwei Häuser von Guimard und mehrere Gebäude im Art-déco-Stil sehen
können. Wir biegen nach rechts ein in die rue Henri Heine, dann nach links in
die rue du Docteur Blanche. Zur Linken finden wir die Sackgasse square du
Docteur Blanche, an deren Ende, Hausnummern 8-10, sich zwei der ersten Häuser
Le Corbusiers befinden, die Villen La Roche und Jeanneret aus dem Jahre 1923,
die beiden einzigen Gebäude eines ursprünglich geplanten Straßenzuges. Hier
befindet sich heute die "Fondation Le Corbusier", in der Zeichnungen,
Entwürfe und Pläne Le Corbusiers zu sehen sind.
Dann geht es zurück nach rechts in die rue du Docteur Blanche. Die dritte
Straße rechts ist die rue Mallet-Stevens, wieder eine Sackgasse. Wir sehen hier
mehrere heute efeubewachsene von Robert Mallet-Stevens 1926/27 gebaute
Wohnhäuser.
Dann geht es wieder nach rechts in die rue du Docteur Blanche, dann nach rechts
in die rue de l´Assomption und nach rechts in die avenue Mozart. Nummer 122 ist
das Wohnhaus von Hector Guimard von 1912.
Wir biegen dann nach links in die rue La Fontaine ein. Nach einer Weile stoßen wir rechts auf die rue Agar, deren Häuser ebenfalls von Guimard gebaut wurden.
In der rue La Fontaine 17 befindet sich ein Café aus dem Jahre 1911,
ebenfalls von Guimard, und schließlich kommen wir zu seinem Meisterwerk, dem
"Castel Béranger", auf der linken Seite in der rue La Fontaine Nr.
14, gebaut von 1894-1898.
Im folgenden nun nähere Informationen über die drei genannten Architekten und
ihre Werke.
Le Corbusier
Je dis, en raccourci, ceci:
Il nous faut un bel espace pour vivre
À la pleine lumière,
pour que notre "animal"
puisse ne pas se sentir en cage,
qu´il puisse remuer, avoir de l´espace
autour de lui, devant lui...
Le Corbusier wurde am 6. Oktober 1887 als Charles-Édouard Jeanneret-Gris in
La-Chaux-de-Fonds (Schweiz) geboren; er starb am 27. August 1965 in
Roquebrune-Cap-Martin bei einem Badeunfall.
Er war Architekt, Möbeldesigner, Maler, Bildhauer, Tapetendesigner und
Schriftsteller.
Er war zusammen mit Frank Lloyd Wright und Mies van der Rohe der berühmteste
und einflußreichste Architekt des 20. Jahrhunderts. Als Maler war er Vertreter des
Purismus und malte vorwiegend Stilleben.
Er fertigte außerdem Zeichnungen, Buchillustrationen und Lithographien an; er
entwarf Tapeten, Möbel, schrieb Bücher und Artikel.
1902 macht er eine Ausbildung zum Graveur-Ciseleur an der École d´Art.
1905 schreibt er sich in den Cours supérieur de décoration ein, wo ihn sein
Lehrmeister Charles l´Eplattenier auf die Architektur orientiert.
In den folgenden Jahren unternimmt er Reisen nach Italien, Deutschland,
Griechenland, auf den Balkan und in die Türkei.
1909 wird er Mitgründer der Ateliers d´arts moins und lehrt dort ab 1911.
1917 läßt er sich in Paris nieder und gründet 1920 zusammen mit Comédie
Ozenfant die Zeitschrift L´Esprit Nouveau und nimmt das Pseudonym Le
Corbusier an (Der Name seines Großvaters war Lecorbesier).
1930 wird er französischer Staatsbürger und heiratet Yvonne Gallis.
1957 wird er zum Ehrenbürger von La-Chaux-de-Fonds ernannt, nachdem dort die
erste Ausstellung in seiner Heimatstadt stattgefunden hatte.
1961 erhält er die goldene Medaille der amerikanischen Architektenvereinigung.
Seine bekanntesten Bauwerke sind die Villen Savoy in Poissy und Stein in
Garche, das Gebäude der Heilsarmee in Paris, L´Unité d´habitation (La Cité
radieuse) in Marseille (1945-1950), le Couvent de la Tourette, die Kapelle
Notre Dame du Haut in Ronchamp (1952-55) und die Stadt Chandighar in Indien.
1937 baut er den "Pavillon der neuen Zeit" für die Pariser
Weltausstellung.
1950 erhält er den Auftrag, die kolumbianische Hauptstadt Bogotá zu
modernisieren.
Sein Baustil des 20. Jahrhunderts gründete sich auf
Die "fünf Freiheiten" seiner neuen Architektur
sind:
1. Pilotis: Verstärkte Betonsäulen, die das Gebäude vom Boden abheben und der
Landschaft erlauben, "unter ihm durchzufließen" (pilotis qui libèrent
le sol)
2. Dachgärten auf verstärkten Betonscheiben (toit-terrasse)
3. Der freie Plan - Die Säulenkonstruktion schuf freien Raum, um jede Etage
beliebig aufzuteilen (plancher libre de toute cloison intérieure)
4. Das lange Fenster - diese Konstruktion befreit Wände und Fenster und läßt Tageslicht
ohne bauliche Hindernisse ins Gebäude (fenêtre en longueur)
5. Die freie Fassade - die zurückgesetzte Struktur der Fassade ist lediglich
eine Membran; Mauern oder Fenster werden entsprechend den Erfordernissen der
Innenarchitektur gestaltet und angeordnet (façade libre de toute structure)
Die Architektur muß für ihn "im Einklang mit den großen primären Werten
der Volumen, der Proportionen, der Zweckmäßigkeit und des klaren Ausdrucks von
Grundrißelementen" stehen.
Typenelemente und Standards müssen eindeutig formuliert, funktional und für die
Serienproduktion geeignet sein. Mit der Serienproduktion von Häusern will er
die individuelle Fragmentierung des Stadtraums verhindern.
Durch den Einsatz von Standardelementen will er eine Befreiung vom Chaos der
willkürlichen Architektur erreichen. "Standardisierung bedeutet niemals
Eintönigkeit, immer Einheit. Variation und Individualität werden durch die
unterschiedliche Verwendung von Standardelementen erreicht."
Das bedeutet eine Standardisierung im Grundriß (neues Grundmodul), in der
Konstruktion (Skelettbau) und im Detail (Industrialisierung).
Eine Erneuerung im Städtebau soll auf der Grundlage einer typologischen
Vereinheitlichung der Architektur erfolgen.
Der horizontalen Zellensiedlung der Gartenstadt stellt er die vertikale
Zellensiedlung des Villenblocks entgegen. Haus und Garten werden als Einheiten
gestapelt; es entstehen große, zusammenhängende Freiflächen.
Exemplarisch sei hier die Unité d´habitation in Marseille
beschrieben:
Sie besteht aus 17 Stockwerken mit 337 Wohnungen. Es gibt 23 Varianten des
Grundwohnungstyps, die Einzelpersonen und Familien bis zu 6 Personen aufnehmen
können.
Der vertikale Zugang erfolgt über Aufzüge und Treppen, der horizontale über 5
Innenstraßen, die sogenannten Luftstraßen.
Vorfabrizierte Wohnungselemente wurden wie Streichholzschachteln in eine
Skelettkonstruktion aus Stahlbeton gesteckt. Das Tragwerk jeder Wohnung ist
unabhängig vom tragenden Skelett. Jedes Wohngeschoß besteht aus drei Ebenen.
Der Eingang befindet sich auf der mittleren Ebene, von wo aus die Wohnungen
nach oben bzw. unten erschlossen werden. Das Wohnzimmer umfaßt 2 Etagen; Küche
und Schlafzimmer befinden sich im eingeschossigen Bereich.
Unter den Stützen des Gebäudes "fließt" ein Park hindurch, auf halber
Höhe befindet sich eine zweistöckige Ladenstraße mit Hotel, Geschäften und
Restaurants, und es gibt eine gemeinschaftliche Dachterrasse mit Blick über das
Meer und die Berge und einer Turnhalle, einem Kinderhort mit Schwimmbecken,
einer Bar und einem Freilufttheater.
Die hohe Verdichtung sollte Platz für die Natur schaffen, so daß Licht, Raum
und Grün allen zugänglich waren.
Die Wohnungen sollten den Bewohnern die neuesten technischen Errungenschaften
zugänglich machen und waren mit warmem und kaltem Wasser, Heizung, Klimaanlage,
WC, Duschen, Gas, Telephon und Elektrizität ausgestattet.
Dieses Gebäude übte einen großen Einfluß auf die europäische Architektur der
1950er Jahre aus. Hochhäuser im Grünen wurden als Alternative zur
unzureichenden Wohnversorgung in den Städten angesehen.
Allerdings wurde später wenig Sorgfalt auf Gemeinschaftseinrichtungen als
Ergänzung zum privaten Wohnen verwendet. Insofern wurde Le Corbusier
unfreiwillig zum Wegbereiter einer menschenverachtenden Hochhausarchitektur.
Hector Guimard
Hector Guimard wird 1867 in Lyon geboren.
Von 1882 bis 1885 besucht er die École des Arts Décoratifs in Paris,
anschließend ab 1885 die École des Beaux Arts. Ein Café am Quai d´Auteuil ist
1886 sein erster Auftrag.
1889 nimmt er an der Pariser Weltausstellung teil (pavillon de l´électricité).
1895 begegnet er auf einer Belgienreise dem Jugendstilarchitekten Victor Horta
(1861-1947).
1899 gewinnt er mit dem Castel Béranger den Pariser Fassadenwettbewerb.
1900 wird er für die Betreibergesellschaft der Pariser Métro tätig und
gestaltet mehrere Métroeingänge. Die geschwungenen Jugendstilformen im
Gegensatz zum klassischen Stil waren damals heftig umstritten.
1909 heiratet er A. Oppenheim (1872-1965).
1938 zieht er mit seiner Frau nach New York um. Dort stirbt er 1942.
Wichtige Gebäude sind: Hôtel Roszé (1891), Hôtel Jassedé (1893), Hôtel Delfau
(1894), Castel Béranger (1894-1898), École du sacré-cœur, Atelier Carpeaux
(1895), Immeuble Jassedé (1903), Hôtel Deron-Levent (1905), Immeuble Trémois,
Immeuble de rapport, Hôtel Mezzara (1910), Hôtel Guimard (1912), Hôtel
particulier (1921), Villa Fore (1924), Immeuble de rapport (1926).
Das Castel Béranger (1894-1898), ein Wohnhaus
für 36 Parteien, ist ein Meisterwerk des Jugendstils (L´Art nouveau) in
Frankreich.
Die Fassade ist ausgesprochen detailliert gestaltet, unter Einsatz
pflanzlicher und tierischer Formen: Katzen, Seepferdchen, die die Mauern
hinaufklettern, antike Masken, Balkone mit dem Kopf des Künstlers, die
schmiedeeiserne, asymmetrisch gestaltete Eingangstür mit Pflanzenmustern.
Die geschwungene Linie als Symbol für die Natur bildet das wesentliche Element
der Fassade.
Guimard verbindet verschiedene Materialien miteinander (Bruchstein, Ziegel,
Gußeisen, glasierte Lava). Er spielt mit ihrem Blickwinkel und mit ihren
Farben.
Das Hôtel Guimard (1912), gebaut auf einem
dreieckigen Grundstück, verblüfft in erster Linie durch die sorgfältige
Gestaltung der Balkone und Fenster.
Jedes Fenster hat eine andere Größe und befindet sich dort, wo man es nicht
vermuten würde.
Robert Mallet-Stevens
Robert Mallet-Stevens (1886-1945) ist ein wichtiger Vertreter des Art Déco in Frankreich, beeinflußt von Charles Rennie Mackintosh und Josef Hoffmann. Er wird an der École Spéciale d´Architecture in Paris ausgebildet und arbeitet vorwiegend im Bereich der Innendekoration. 1924 gründet er die Union des Artistes Modernes und baut für die "Exposition internationale des arts décoratifs" 1925 in Paris den Pavillon für Touristik.
Art
Déco hat seine Wurzeln im Jugendstil und im Kubismus. Hervorragende Vertreter
dieser Richtung waren Josef Hoffmann und Koloman Moser und ihre Wiener
Werkstätte sowie die Briten William Morris und Charles Rennie Mackintosh.
Fernand Léger und seine kubistischen Werke zeigten die neue Verbindung von
Industrie und Kunst.
In dieser Hinsicht war auch Fritz Langs Film "Metropolis" (1926)
wegweisend. Er zeigte eine kalte mechanische Welt; aber man konnte auch alle
dekorativen Elemente in den gezeigten modernistischen Formen der Gebäude sehen,
die rasch in ganz Europa modern wurden.
Gegenüber
dem Jugendstil bedeutete Art Déco eine Rückkehr zur geraden Linie, zum rechten
Winkel, zu geometrischen Formen.
Die fünf Gebäude in der rue Mallet-Stevens (1926/27) erinnern mit ihren weißen Fassaden und ihren lebendigen Elementen von Aufsätzen und Vorsprüngen an eine kubistische Skulptur; sie bestehen aus Würfeln und Zylindern. Mallet-Stevens interessierte sich nicht für große Wohnprojekte für die breite Masse; er baute nur für reiche Bürger, die seinem modernen Stil gegenüber offen waren.
Ralf Müller
Zwischen
der Rue Raynouard und der Rue Berton steht das Haus von Honoré de Balzac, in
welchem heute ein Museum, das sich dem Leben und Schaffen des Schriftstellers
widmet, untergebracht ist. Von Oktober 1840 bis zum April 1847 hatte der
berühmte Autor in diesem Haus eine bescheidene Wohnung in der zweiten Etage.
Balzac wird 1799 in Tours als ältestes von 4 Kindern geboren. Als er seine literarische Ader entdeckt, lassen ihn seine Eltern gewähren, so daß er seine juristische Karriere aufgeben kann. Fortan widmet er sich dem Schreiben. Da aber der Erfolg auf sich warten läßt, kauft er eine Druckerei und beteiligt sich an einer Buchhandlung. Seine Geschäfte enden in einem finanziellen Desaster und bewirken eine ständige Geldnot bei Balzac. 1831 schreibt er in einem Brief, daß sich eine Struktur in seinem Werk bildet. Er hat vor, die französische Gesellschaft seiner Zeit in einer literarischen Gesamtdarstellung zu zeichnen. 1840 gibt er seinem Werk erstmals einen Namen: "La Comédie humaine". 1841 unterschreibt er einen Vertrag mit 4 Verlegern, der ihnen das Exklusivrecht auf Druck und Verkauf seines Komplettwerks zusichert. Da er seine bereits geschriebenen Werke ebenfalls in die "Comédie humaine" einbinden will, muß er sie nochmals lesen und entsprechend korrigieren, denn die Personenstruktur des Werks soll einheitlich sein durch Figuren, die in mehreren Werken wiederauftauchen. Pro Monat sitzt er über 200 Stunden über der "Comédie", liest jedes Manuskript und jeden Entwurf dreimal, um sie zu berichtigen. 1845 veröffentlicht Balzac einen Gesamtkatalog der "Comédie humaine", die 137 Werke umfassen soll. Für den Rest seines Lebens widmet er jede freie Minute der Komplettierung der "Comédie". Er kann sein Werk jedoch nicht beenden, da seine Gesundheit zu sehr angegriffen ist. Er wird nur 51 Jahre alt. In der "Comédie humaine" treten ca. 3.000 Personen auf, und sie umfaßt 90 Bände.
Im Gartenhaus zwischen der Rue Raynouard und der Rue Berton hoffte er, in Ruhe an seiner "Comédie humaine" arbeiten zu können. Ruhe, das heißt Abstand von seinen Gläubigern, die den stets verschuldeten Autor mit ihren Forderungen verfolgten, und akustische Ruhe, um konzentriert schreiben zu können. Seine stete Verschuldung machte ihn bei seinen Verlegern unbeliebt, denn immer, wenn Balzac ein Manuskript überarbeitete, korrigierte er es nicht nur, sondern verlängerte es auch noch, denn in seiner Epoche wurde der Autor vom Verleger nach der Länge der Werke bezahlt. Er quartierte sich nicht unter seinem richtigen Namen in das Haus ein, sondern unter dem Pseudonym Monsieur de Breugnol, nach dem Namen seiner Gouvernante. Was die akustische Ruhe betraf, so hatte Balzac das Pech, in der Nachbarschaft kinderreicher Arbeiterfamilien zu wohnen, die eine entsprechende Lautstärke verbreiteten. So beklagte sich Balzac 1844 darüber, daß ihn die Kinder der unter ihm wohnenden Familie durch ihr Gestampfe und Gepoltere vom Arbeiten abhielten. Die Lösung bestand für ihn darin, daß er die Nacht zum Tage machte. Also stand er zwischen Mitternacht und 2 Uhr morgens auf und begann sein Werk, das bis in den Morgen dauerte. In dieser Zeit goß er dutzende Tassen Kaffee in sich hinein; es ist selbstredend, daß das nicht gerade gesundheitsfördernd war, zumal er noch zusätzlich mit seinem Übergewicht und einem Herzleiden zu kämpfen hatte. Als sein angegriffener Magen rebellierte, ließ er sich seine Gewohnheit trotzdem nicht nehmen, arbeitete wie ein Besessener und trank weiter. Er starb am 19.8.1850.
Außer ihm bewohnten noch 15 andere Mieter das Haus, das heute als "Maison de Balzac" vollständig auf drei Etagen zu besichtigen ist. Sehr interessant sind die Originalhandschriften Balzacs und die Originalmanuskripte, die Balzacs Randbemerkungen und Korrekturen zeigen. Im folgenden sollen die herausragenden Besonderheiten des Hauses geschildert werden.
Im
"Cabinet de travail", das in rotem Velours gehalten ist, steht sein
kleiner Schreibtisch. Man kann sich den Autor vorstellen, wie er in Mönchsrobe
an seinem Werk arbeitet. Neben dem Tisch und dem Sessel ist außerdem als
interessantestes Objekt die Kaffeekanne zu sehen, die Balzac bei seiner nächtlichen
Arbeit behilflich war und die von ihm reichlich gefüllt und geleert wurde.
Weiterhin sind in dem Zimmer zu sehen: Eine Büste von David d’Angers, eine
Kristallvase, die ihm von einer Verehrerin geschenkt worden war und die Balzac
von einer Muse gekrönt zeigt, und eine andere Muse, die "La Comédie
humaine" schreibt. Weiterhin eine ziselierte goldene Uhr, die dem
Schriftsteller gehörte. Die Bilder, die in verschiedenen Briefen Balzacs
geschildert werden, sind leider nicht mehr vorhanden.
Im ersten Stock sind eine Ausstellung der Übersetzungen von Balzacs Werken in alle möglichen Sprachen sowie Holz- und Kupferstiche zu sehen.
Im Erdgeschoß befindet sich die Bibliothek, die die kompletten alten Originalausgaben von Balzacs "La Comédie humaine" enthält. Ferner Zeitungsausschnitte und Bücher, die am Anfang von Balzacs schriftstellerischer Karriere gedruckt worden sind. Weiterhin sind dort Fotos, Originalhandschriften, Manuskripte und Entwürfe Balzacs zu besichtigen. Außerdem sind Werke von Balzacs Zeitgenossen zu sehen.
Ein hochinteressanter Besuch in der Werkstatt eines der berühmtesten Romanciers Frankreichs. Lies mal wieder Balzac.
Hier noch 2 weitere Links zu Balzac: www.brain-jogging.de/Balzac / www.frankweidemann.de
Frank Welkisch
Es kommt äußerst selten vor, daß man eine Visitenkarte eines Parisers aus der Rue Émile Richard findet, denn in dieser Straße in Paris existiert nur ein einziges Wohnhaus, in dem die Bewohner lebendig sind. Die restlichen Anwohner liegen zu beiden Seiten der Rue Émile Richard, denn diese Straße teilt den Friedhof Montmartre in der Mitte in zwei Teile, was sicherlich eine Seltenheit darstellt. Um von einem Teil in den anderen zu gelangen, sind an zwei Stellen der Friedhofsmauer Durchgänge, die den Übergang ermöglichen. Allerdings sollte man, um nicht für immer auf dem Friedhof bleiben zu müssen, die Straße aufmerksam überqueren, da sie für den Autoverkehr nicht gesperrt ist.
Auf dem Gelände des Friedhofs, der ca. 19 Hektar umfaßt, befindet sich eine Mühle, die zwar keine Flügel mehr hat, u.a. aber das Wärterhäuschen beherbergt. Im 18. Jahrhundert fanden sich viele solcher Mühlen am südlichen Stadtrand, und als die Stadtväter beschlossen, die Toten nicht mehr neben der Kirche in der Innenstadt zu begraben, fiel ihre Wahl auf dieses Gelände südlich des Montparnasse. Am 25.7.1824 öffnete daraufhin der Friedhof seine Pforten. Seit 1874 werden die Grabkonzessionen ohne zeitliche Begrenzung ausgestellt. Dies gilt allerdings nur, wenn die Nachfahren nicht pietätlos sind und das Grab nicht verfallen lassen. Ansonsten befestigt die Stadt nach einer Totenruhe von 30 Jahren an dem Grab eine Aufforderung an die Verwandtschaft, sich im Büro zu melden. Wenn sich nach drei weiteren Jahren niemand gemeldet hat, werden die Überreste exhumiert und ins Beinhaus auf dem Père-Lachaise gebracht. Dies kommt statistisch immerhin einmal pro Tag vor. Der Preis für eine Grabkonzession beträgt ca. 22.000 FF; er beinhaltet eine Fläche von 2 m2.
Eine große Besonderheit des Friedhofs sind die Katzen, die es zwar auch in großen Mengen auf den anderen Pariser Friedhöfen gibt, die aber auf dem Montparnasse einen besonderen Schutz genießen. Das "Komitee zur Verteidigung der freilebenden Tiere auf im Montparnasse-Friedhof" kümmert sich seit dem 13.4.1981 um die Katzen, indem es sie in regelmäßigen Abständen einsammelt, impft, gesundheitlich versorgt und dann wieder auf dem Friedhof freiläßt. Alle Tiere sind auf Karteikarten erfaßt und werden jeden Tag gegen 14 Uhr an strategischen Punkten gefüttert.
Unter anderem ist hier Charles Baudelaire (1821-1867) begraben, wobei jedoch viele Besucher dadurch irregeleitet werden, daß Grab und Denkmal nicht identisch sind. Ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod hatte sich ein Komitee gebildet (unter Beteiligung von Verlaine und Zola), um den längst vergessenen Toten zu ehren. Gegen heftigen Widerstand einiger Kulturkritiker, die Baudelaire als Inbegriff von Unmoral und Ausschweifung betrachteten und ihm die "Fleurs du mal" nicht verziehen hatten, schuf José de Charmoy ein rätselhaftes und symbolüberladenes Denkmal, das sich an der Mauer der Rue Émile Richard befindet: Über einem skelettartigen Vampir, dem Blutsauger, stützt ein muskulöser Mann, der eher einem Herkules als dem durch Krankheit und Drogen gezeichneten Poeten ähnelt, sein Kinn auf die Fäuste. Seine Funktion ist umstritten. Vielleicht soll der Blick dieses Herkules dem darunter ruhenden Leichnam, der wie eine Mumie in Leichentücher gehüllt ist, die Blumen des Bösen vom Leibe halten? Seinem Stiefvater gegenüber fühlte Baudelaire nur unversöhnlichen Haß, seiner Mutter brachte er dagegen heftige Liebe entgegen, die diese aber nur mit kühler Bevormundung beantwortete. Das trieb ihn in die Arme der Verschwendungs- und Genußsucht. Das ihm zustehende und ausbezahlte Erbe gab er im Nu zum größten Teil aus, so daß die Mutter ihn aufgrund seiner Zügellosigkeit und Verschwendungssucht entmündigen ließ und ihm einen gerichtlichen Vormund gab. Daraufhin berauschte sich Baudelaire noch mehr mit Drogen, preßte seine Phantasien in Verse und schockte damit die Bourgeoisie. In "La révolte et la mort" pries Baudelaire in hemmungsloser Ekstase Luzifer und lästerte Gott. Der Staatsanwalt beschlagnahmte 1857 die "Fleurs du mal" und verurteilte den ohnehin finanzschwachen Autor wegen der "verderblichen Wirkung der Bilder" zu einer Geldstrafe von 300 FF. Außerdem mußte er sechs Gedichte aus dem Band entfernen. Das Urteil wurde erst hundert Jahre später wieder aufgehoben. Die Brüder Goncourt berichten von einem gemeinsamen Abendessen, bei dem Baudelaire kurzgeschoren, ohne Krawatte und mit offenem Hemdkragen aussah, als sei er auf dem Weg zur Guillotine. Mit Zorn und Hartnäckigkeit verteidigte er sich beim Abendessen gegen den Vorwurf, in seinen Gedichten die guten Sitten gefährdet zu haben. Selbst ihm nahestehende Literaten hatten Schwierigkeiten, seine Schwärmereien für Tod und Verhängnis nachzuvollziehen.
Baudelaire selbst ruht in einem schlichten Grab am anderen Ende des Montparnasse. An der Inschrift ist zu erkennen, wer in der Familie des Sagen hatte. So steht an erster Stelle der verhaßte Stiefvater Jacques Aupick, der ein mit vielerlei Orden dekorierter Politiker und daher nicht vergleichbar mit einem wüsten Schreiberling war. Daher wird dieser nur zweizeilig als Stiefsohn erwähnt. Wie es der Ordnung einer gutbürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts entspricht, wird die Mutter als letzte erwähnt. Baudelaire starb am 31.8.1867 im Alter von 46 Jahren in einer Heilanstalt. Durch übermäßigen Alkohol- und Opiumgenuß und die Syphilis war er in ein Siechtum verfallen, in dessen letzter Phase vor seinem Tod er mit geistiger Blindheit geschlagen war, er sich nicht einmal mehr im Spiegel selbst erkannte und grüßte. Sprachgestört sprach er kaum mehr als drei Worte: "Nein, verflixt, nein" und besann sich nur auf seinen Namen, wenn er ihn auf dem Einband seiner eigenen Bücher sah. Am Tage seiner Beerdigung folgten seinem Sarg nicht einmal hundert Menschen. Das übrige Paris nahm von seinem Tod keine Notiz.
Auf einem Grabmal fällt eine
schlanke, hohe Säule auf, auf der eine Altmännerbüste thront. Die kahlköpfige
Büste starrt voller Mißmut auf die Grabbesucher hinab. Dieses eigenwillige Werk
stammt ebenfalls von José de Charmoy, der auch das Denkmal Baudelaires schuf.
Dies ist das Grab von Augustin Sainte-Beuve (1804-1869), Dichter,
Schriftsteller und Literaturkritiker seiner Zeit, in dessen Kritik die
literarische Welt sich sonnte oder vor der sie erzitterte. So hat er
beispielsweise "Madame Bovary" (1856) von Gustave Flaubert in
höchsten Tönen gelobt, das Nachfolgewerk "Salammbô" (1862) dagegen
vollkommen verrissen. Weiterhin machte er von sich reden, als er Victor Hugo
die Ehefrau ausspannte, während der mit seiner Geliebten Juliette Drouet
verträumte Waldspaziergänge unternahm.
Sehr
leicht zu finden ist das Grab von Jean-Paul Sartre (1905-1980), das sich
neben dem Haupteingang befindet. In Anspielung auf die Tatsache, daß er
Kettenraucher war, finden sich auf seinem Grab manchmal ein paar
Zigarettenkippen. Sartre starb an einer Lungenembolie. Tagelang berichteten die
Medien über seine Werke mit immer neuen Zeugnissen und Texten. Seinem Sarg
folgten rund 50.000 Menschen, darunter Yves Montand, Simone Signoret und Michel
Rocard. Der amtierende Staatspräsident Giscard d’Estaing war allerdings der
Beerdigung ferngeblieben. Auch der Gaullismus und seine Nachkommen hatten
Sartres Ablehnung des herrschenden Systems nicht verwunden, obwohl de Gaulle
selbst 20 Jahre vorher verhindert hatte, daß Sartre wegen angeblicher
Komplizenschaft mit der algerischen Befreiungsfront verhaftet wurde. In diesem
Zusammenhang soll er den berühmten Satz gesagt haben: "Einen Voltaire
sperrt man nicht ein". Weiteres Aufsehen erregte Sartre, als er 1964 die
Annahme des Literaturnobelpreises ablehnte und in den siebziger Jahren die Mitglieder
der RAF im Gefängnis in Stuttgart besuchte.
Seine Zeit verbrachte er oft allein oder mit
Diskussionspartnern in den Pariser Cafés "Les deux magots" oder im
"Café de Flore" und philosophierte über den Existentialismus. Heute
noch pilgern Touristen zu diesen Cafés und fragen die Kellner, wo Sartre saß
oder suchen nach Bildern von ihm an den Wänden.
Neben ihm liegt seine langjährige Lebensgefährtin Simone de Beauvoir
(1908-1986), die 1982 die Öffentlichkeit mit der "Cérémonie d’adieu"
schockte, in der sie das Siechtum Sartres schildert: den langsamen Verfall
eines alternden Mannes, der sich die Suppe über die Füße gießt und dem die
Zigarette aus dem Mund fällt. Ihr wohl berühmtestes Werk ist "Le deuxième
sexe", das sich als "Bibel des Feminismus" durch den Satz
"On ne naît pas femme: on le devient" ("Man kommt nicht als Frau
zur Welt, man wird es") auszeichnet. 1954 wird sie für ihren Roman
"Les mandarins" mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, dem
bedeutendsten französischen Literaturpreis. Nach ihrem Tod folgten etwa 5.000
Menschen dem Sarg, darunter fast die gesamte Regierung, denn die Zeiten hatten
sich geändert, und Mitterrand war an der Macht. Als der Trauerzug an ihnen
vorbeikam, standen vor den Cafés am Boulevard der Dichter und Maler die Kellner
stumm Spalier, um sich vom letzten Symbol einer zu Grabe getragenen Epoche zu
verabschieden.
Der
"Vater des absurden Theaters", Eugène Ionesco (1909-1994), ist
ebenfalls hier begraben. 1970 wurde er einer der "Unsterblichen" der
Académie française, ohne daß er jemals die damit verbundenen Rechte, Pflichten
und Aufgaben wahrgenommen hätte. Als Václav Havel 1991 zum Staatsbesuch in
Paris eintraf, fragte er beim damaligen Kulturminister nach dem Befinden
Ionescos, der ihn zum Schreiben bewegt hatte. Peinlicherweise war Ionesco von
Kulturminister Jack Lang nicht eingeladen worden. Dies wurde dann telefonisch
von Mme Lang nachgeholt. Das kleine Theater "La Huchette" im Quartier
Latin spielt seit Jahren seine Stücke. Doch auch dadurch ließ und läßt sich nicht
vertuschen, daß seine Werke ebenso wie die von Anouilh oder Giraudoux seltener
auf den Spielplänen der internationalen Theaterszene auftauchten. Das jedoch
konnte er verschmerzen. Statt dessen widmete er sich im Alter mehr der Malerei.
Eine der letzten überlieferten Äußerungen Ionescos lautet: "Ich habe für
nichts gelebt und werde nichts mitnehmen. Ich gebe alles an der Garderobe
ab".
Ein weiterer Literat ist Samuel Beckett (1906-1989). Er ließ sich 1937 in Paris nieder. Eines Abends wurde er von einem Clochard überfallen und niedergestochen. Beckett besuchte den Attentäter später im Gefängnis und fragte ihn, warum er ihn überfallen habe, woraufhin dieser antwortete: "Ich weiß es nicht". Angeblich hat Beckett diesen Landstreicher in sein Werk "Warten auf Godot" eingearbeitet. Menschenscheu wie er war, hat er es immer abgelehnt, Worte über seine literarischen Schriften zu verlieren: "Ich habe nichts zu sagen. Ich kann nur sagen, bis zu welchem Punkt ich nichts zu sagen habe." Selbst der Literaturnobelpreis holte ihn 1969 nicht aus seiner selbstgewählten Isolation. Im Gegensatz zu Ionesco hatte er sich aktiv der Résistance angeschlossen und konnte nur knapp der Gestapo entkommen. Erst in den letzten Lebensjahren gestand ihm das offizielle Frankreich höchste Ehrungen zu. So erkannte man ihm zu seinem 80. Geburtstag den Titel "Dichter des Jahrhunderts" zu. Beckett entzog sich den Feierlichkeiten und verschenkte das Preisgeld. Wenige Monate, nachdem seine Frau verstarb, wurde auch er am 26.12.1989 zu Grabe getragen. Seinem Sarg folgten nur die engsten Vertrauten, denn seinem Willen gemäß erfuhr die Nachwelt erst nach seiner Beerdigung von seinem Tod.
Ähnlich
wie das Grab von Jim Morrison auf dem Père-Lachaise hat auch der Montparnasse
seine Wallfahrtsstätte, denn Serge Gainsbourg (1928-1991) ist hier
begraben. Auf seiner Grabplatte sind ständig Zigarettenkippen, Métrotickets,
vergilbte Fotos, nachgekritzelte Songtexte und Widmungen zu finden. Er
entzweite jahrzehntelang Frankreich, bewirkte mit seinen Auftritten und Interviews
Ekel und Faszination, Jubel und Empörung. Als "enfant terrible"
verschrien, sorgte er in Talkshows regelmäßig für Eklats und Dauerskandale,
indem er z.B. mit einem Geldschein seine Zigarette ansteckte, vor gefülltem
Whiskyglas Antworten lallte und bei Bedarf dem anderen das Glas übers Hemd goß.
Weiterhin trieb er Whitney Houston schluchzend aus dem Studio, nachdem er ihr
vor laufender Kamera in tiefstem Vulgärenglisch ein unmoralisches Angebot
gemacht hatte. Als Kind wegen notorisch schlechten Betragens von der Schule
verwiesen, fiel er bei der Armee durch konsequente Disziplinlosigkeit auf. Zum
Chanson fand er durch eine Begegnung mit Boris Vian (Zitat Gainsbourg:
"Der entscheidende Faustschlag in meine Fresse"). Seine Chansons sind
eine Kombination von Comic-Witz und Gassen-Slang. Wenn ihm das zu langweilig
wurde, schrieb er Erfolgstitel wie am Fließband. So gelangte 1965 die damals
noch unbekannte France Gall ("Poupée de cire, poupée de son") mit
seiner Hilfe an die Spitze der Hitliste und gewann den Grand Prix Eurovision de
la Chanson. Dann wieder sorgte er für einen Skandal, als er es wagte, die
französische Nationalhymne zu verhöhnen, indem er sie in eine rhythmische
Reggae-Version umkomponierte ("Aux armes etcetera"). Die Empörung darüber
war so groß, daß in Straßburg Fallschirmjäger aufmarschieren mußten, um die
Ordnung wiederherzustellen. Den ersten Skandal jedoch verursachte er mit seiner
millionenfach verkauften Stöhnballade "Je t’aime, moi non plus", die
er zunächst mit Brigitte Bardot vertonte. Diese Fassung ließ jedoch Bardots
damaliger Ehemann Gunter Sachs vor der Veröffentlichung einstampfen. Die zweite
Version mit Gainsbourgs späterer Partnerin Jane Birkin wurde zum Welterfolg und
machte ihn zur Legende. Als er einmal gefragt wurde, warum er immer so rastlos
sei und vor dem Glück davonlaufe, antwortete er: "Glück ist langweilig und
nicht konstruktiv". Serge Gainsbourg starb im April 1991 plötzlich, wegen
seiner dauernden Exzesse aber nicht unerwartet.
Marguerite Duras (1914-1996) hat hier ebenfalls ihre letzte Ruhe gefunden. Die "Zauberin der Literatur" (Jack Lang) und "Doyenne du Nouveau Roman" war aktives Mitglied der Résistance, wo sie Mitterrand kennenlernte, den sie später bis zum Ende ihres Lebens verehrte. Sie war im Krieg nach Deutschland deportiert worden und sagte in späteren Jahren, daß sie in ihrem Leben nie mehr Angst gehabt habe als vor den Deutschen. Ihre kritiklose Schwärmerei für Mitterrand verziehen die Franzosen ihr, nicht jedoch ihre Sympathie für den in Affären verstrickten Multimanager und Ex-Minister Bernard Tapie. Unumstritten jedoch blieb ihr literarisches Werk, das 40 Romane, 10 Theaterstücke und ebenso viele Filme umfaßt. Sie schrieb u.a. "Hiroshima mon amour" und "L’amant".
Ebenfalls liegen hier Charles de Gaulle und George Sand. Dazu muß man allerdings sagen, daß das nur Verstorbene sind, die mit ihren politischen und literarischen Namensvettern außer eben dem Namen nichts gemeinsam haben.
Echt ist allerdings Alfred Dreyfus (1859-1935). Ihm verdankt die nach ihm benannte Affäre ihren Namen. Als Hauptmann der Armee wurde er 1894 fälschlicherweise des Landesverrats bezichtigt. Der jüdische Artillerieoffizier hatte angeblich militärische Geheimnisse an Deutschland verraten. Er wurde verurteilt und nach Cayenne verbannt, obwohl seine Schuld nicht bewiesen war. Als seine Unschuld längst nicht mehr zu leugnen war – der tatsächlich Schuldige war bereits 1896 ermittelt worden – wurde er 1899 begnadigt, 1906 voll rehabilitiert und wieder in die Armee aufgenommen. Von der zwölf Jahre dauernden Dreyfus-Affäre wurde Frankreich ständig in Atem gehalten. Der angesehene Emile Zola veröffentlichte 1898 in der Zeitung "L’Aurore" seinen Leitartikel "J’accuse" und machte sich dadurch viele Feinde. Unbestätigten Gerüchten zufolge ist ein Dreyfus-Gegner für Zolas Tod verantwortlich, indem er den Abzug des Ofens in Zolas Zimmer verschloß und dieser daraufhin im Schlaf an einer Kohlenmonoxidvergiftung starb (siehe auch den Bericht über unseren Besuch in Zolas Haus). Dreyfus, der sogar zum Offizier der Ehrenlegion ernannt worden war, hat sich nie von dem ihm angetanen Unrecht erholt und starb 1935.
Um das Grab von Guy de Maupassant (1851-1893) zu finden, braucht man viel Zeit und Geduld. Sein Lebenslauf verlief zunächst bodenständig bürgerlich. Seine Stelle als Beamter im Marineministerium gab er erst auf, als der Erfolg seiner schriftstellerischen Tätigkeit ihm die finanzielle Unabhängigkeit gesichert hatte. Aus Hochmut sprach er in Gesellschaft nie über Literatur, mißachtete alle offiziellen Ehrungen, dinierte, flanierte und suchte sich die Frauen aus. Kurz, in seinem Privatleben gab er sich den sinnlichen Genüssen hin. Angeblich soll sein sexuelles Leistungsvermögen seine schriftstellerischen Fähigkeiten sowohl in Quantität als auch in Qualität übertroffen haben. Diese Genußsucht führte letztendlich auch zu seinem Ende. Maupassant wurde als Patient Nr. 15 in eine psychiatrische Klinik eingeliefert. Eine verschleppte Syphilis hatte ihn zugrunde gerichtet, wie auch Alfred de Musset, Alfred de Vigny, Charles Baudelaire und Gustave Flaubert. Er versuchte, diese Krankheit mit Alkohol zu bezwingen, anstatt sich ärztlich behandeln zu lassen. Durch die progressive Syphilis veränderte sich sein Geisteszustand reziprok proportional dazu. Auf seinen Rundgängen im Anstaltsgarten bohrte er mit dem Finger Löcher in den Boden und versuchte den Arzt davon zu überzeugen, daß wegen der biologischen Gesetzmäßigkeit in neun Monaten Kinder aus der Erde sprießen würden. Seinem Sarg folgten 4 Freunde und 3 Dirnen. Die Pariser hatten ihm nie verziehen, daß dieser reich gewordene Schriftsteller, der 4 Wohnsitze und 2 Yachten besaß, ihnen gegenüber immer seine Verachtung gezeigt hatte. Ihre Laster hatte er sogar detailgenau in seinen Novellen und Romanen geschildert ("Boule de suif", "La peur", "Une vie", "Bel ami"). Daher bestraften sie ihn mit Nichtbeachtung. Unbewiesen sind Gerüchte, nach denen Flaubert als Jugendfreund der Mutter sein Vater war. Erwiesen ist allerdings, daß Zola für Maupassant die Grabrede und die Totenwache hielt.
Weiterhin liegen hier:
Paul Belmondo (1899-1982), der Vater des Schauspielers Jean-Paul
Belmondo,
Jean Seberg (1938-1979), Schauspielerin,
Frédéric-Auguste Bartholdi (1834-1904), Künstler und Schöpfer der
Freiheitsstatue
Charles
Pigeon (1838-1915), Erfinder der nicht explosiven Gaslampe. Das Grab
zeichnet sich durch die steinerne Darstellung Pigeons aus, der mit seiner Frau
im gemeinsamen Ehebett zu sehen ist.
André Citroën (1878-1935), Automobilkonstrukteur.
Louis Hachette (1800-1864), Gründer des Verlagshauses gleichen
Namens.
Pierre Larousse (1815-1875), Lexikograph und Verleger.
Anna Liszt (1788-1866), Mutter des Komponisten Franz Liszt.
Paul Picasso (1921-1975), Sohn des Malers Pablo
Picasso.
Henri Poincaré (1854-1912), Mathematiker.
Jean Poiret (1926-1992), Schauspieler.
François Rude (1784-1855), Künstler. Er hat am Arc de Triomphe die
Marseillaise in Stein gemeißelt.
Frank Welkisch
"Nulla dies sine linea" – Auf den Spuren eines großen Schriftstellers
Ein Besuch im Hause Émile Zolas (1840–1902) in Médan am Dienstag, den 26. Mai 1998
Médan,
kaum eine Stunde Autofahrt von Paris entfernt, ist ein kleines verschlafenes
Nest mit kleinen Sträßchen, alten Häusern und Villen und verwunschenen Gärten.
Verschlafen und wie ausgestorben – so als sei die Zeit hier stehengeblieben –
erschien uns auf den ersten Blick auch das Haus Émile Zolas. Voller Erwartung
betraten wir das einstige Domizil des großen Schriftstellers; in der Hoffnung,
einen Hauch von Vergangenheit zu erhaschen; einer Vergangenheit, die durch die
Dreyfus-Affäre noch 100 Jahre später, bis in die Gegenwart hinein, nichts an
Aktualität eingebüßt hat, wie ausführliche Rückblicke in verschiedenen Medien
noch im letzten Jahr gezeigt hatten.
Unsere hohen Erwartungen wurden jedoch zunächst durch einen Film über Zolas Leben in Médan enttäuscht. Die Enkelin Zolas glaubte ihrem Großvater ein würdiges Denkmal zu setzen, indem sie sein tägliches Leben aus der Sicht seines ihm treu ergebenen Hundes erzählen ließ: Keine Rede von Zolas politischem und sozialem Engagement, von der internationalen Tragweite seiner Anklageschrift "J'accuse" in der Dreyfus-Affäre und von den für ihn damit einhergehenden Konsequenzen. Der Film zeichnete nicht das Portrait eines engagierten Intellektuellen in einer Zeit, in der die zunehmende Industrialisierung und aufkommende Technik die menschlichen Lebensverhältnisse entscheidend veränderten, in der neue, naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden eine große Zahl von Schriftstellern zu neuen Arbeitsweisen inspirierten und in der sich in der Kunst und Musik neue Techniken und Ausdrucksmöglichkeiten abzeichneten, für die Zola als Kunstkritiker oft genug Partei ergriff. Nein, der Film zeigte lediglich die häusliche, gesellige Seite Zolas; den disziplinierten Schriftsteller, der seinen Tagesablauf einem strengen Zeitplan unterwarf, den Gastgeber, der sich gern mit Künstlerpersönlichkeiten und Literaten seiner Zeit umgab, den Photographen, den mehr oder weniger liebevollen und treuen (?) Ehemann, den Spaziergänger, den Hobbylandschaftsgärtner und -dekorateur.
Wesentlich aufschlußreicher und interessanter als der Film war die anschließende Besichtigung des Hauses.
Dank
der Einnahmen aus den erworbenen Rechte von L'Assommoir sah sich Zola im
Alter von 38 Jahren in der glücklichen Lage, das zunächst noch bescheidene
Häuschen am Ortsrand Médans samt eines 1.200 m2; großen Terrains
kaufen zu können. Die Erfolge von Germinal und Nana ermöglichten
es ihm im Laufe der Jahre, das Haus durch zwei Turmbauten an jeder Seite zu
vergrößern. Letztendlich entstanden so im "Tour Nana" "cuisine,
salle à manger, cabinet de travail, chambres à coucher" und "salle de
bains"; im "Tour Germinal" ein "salon de billard" zum
Empfang der Freunde Zolas und eine "lingerie" als Treffpunkt für die
Besucherinnen und Gäste seiner Frau Alexandrine. Im Zuge der Erweiterung des
Hauses kam es auch zur Vergrößerung des Grundstücks bis zur Seine. Diese
ermöglichte es Zola sogar, einen kleinen Bauernhof mit Stallungen für eigene
Nutztiere einzurichten.
Die Einrichtung und das Dekor des Zolaschen Hauses sind durchaus typisch für die Bourgeoisie des "Fin du siècle". So ist es nicht verwunderlich, daß wir sowohl auf den feinen Kacheln in Küche, Bad und Eßzimmer als auch auf den Wänden und Tapeten immer wieder das monarchistische Symbol der Lilie entdeckten. Angesichts der sozialistischen und antimonarchistischen Haltung Zolas mag diese Dekoration zunächst als Provokation oder als Widerspruch erscheinen; sie versteht sich aber letztendlich als ein Element des neugotischen Stils, ist also lediglich eine Modeerscheinung einer Zeit, in der das Bürgertum im Zuge der Wiederentdeckung des Mittelalters bewußt Symbole dieser Epoche übernahm.
Daß Zola nicht nur der Mode seiner Zeit folgte, sondern – ganz im Gegenteil – bestrebt war, seinem Haus eine individuelle Note zu verleihen, bezeugen u.a. seine Initialen, die sich auf sämtlichen Gegenständen, wie z.B. auf Besteck und Geschirr, aber auch auf Mobiliar und anderen Einrichtungsgegenständen wiederfinden. Ferner sind im "salon de billard" an den Enden der Deckenbalken Wappen angebracht, die eng mit einzelnen Lebensstationen Zolas oder denen seiner Familie verknüpft sind. Das beeindruckendste Beispiel für Zolas individuellen, manchmal recht eigenwilligen Geschmack sind die bunten Glasfenster, die er extra für seinen Salon anfertigen ließ. Bunte exotische Tiere blicken den Betrachter aus einem dichten grünen Blätterwald an. Jedes Blatt – und das ist das Erstaunliche – steht dabei stellvertretend für eine seiner 1200 Personen aus seinen "Rougon-Macquart"-Romanen.
Eine
Grafik erinnert an die Zusammenkünfte mit naturalistischen Schriftstellern wie
Guy de Maupasssant, Henry Céard, Joris-Karl Huysmans, Léon Hennique und Paul Alexis
in Médan. Auf Anregung Zolas verfaßten diese Schriftsteller jeweils eine
Novelle zu einem gemeinsamen Thema, nämlich dem Krieg von 1870: "L´dée
nous vint un soir, après diner, où nous évoquâmes des souvenirs de la guerre de
1870", so Hennequin. Diesem
Thema verdanken wir u.a. Maupassants Boule de suif, Huysmans´ Sac au
dos, Zolas L´attaque du moulin, Henniques L´affaire du grand 7.
Diese Texte erschienen als Manifest der école naturaliste 1880 in einem
Sammelband mit dem Titel Les soirées de Médan. Gewidmet wurde diese
Sammlung Alexandrine, der Ehefrau Zolas, da sie nach Meinung des Verlegers
Charpentier in erheblichem Maße zum Gelingen jener Abende beigetragen hatte;
wohl nicht zuletzt durch die von ihr zubereiteten kulinarischen Genüsse.
Daß auch Malerpersönlichkeiten bei Zola ein- und ausgingen, davon zeugen heute im Haus nur noch wenige Bilder. Zu Zolas Lebzeiten hingegen schmückten Bilder von Renoir, Monet, Manet, Berthe Morisot und Cézanne wie selbstverständlich die Wände seines Hauses. Nach seinem Tod sah sich Alexandrine leider gezwungen, aus Finanznot einen Großteil der Bilder zu verkaufen oder zu versteigern.
Grundsätzlich konnten wir feststellen, daß Zola sich gern mit Objekten jeder Art umgab. Nippes und Mobiliar unterschiedlichster Herkunft zeugen von seiner eklektischen Sammelleidenschaft.
Von ganz individueller Prägung ist Zolas Arbeitszimmer. Eine große Fensterfront erstreckt sich hier vom Boden bis zur Decke und taucht den Raum in helles Tageslicht. Die ursprünglichen Glasfenster stammen aus einer bretonischen Kirche und stellen das Leben der Maria Magdalena dar. Sie befinden sich jetzt in einem New Yorker Museum. Heute hat man durch die klare Glasfront einen wunderbaren Ausblick auf das große Grundstück. Vom architektonischen Gesichtspunkt aus ließe sich sicherlich über diese Fensterfront streiten: Sie stellt eindeutig einen Bruch gegenüber der übrigen Architektur des Hauses dar. Aber genauso wie der eingebaute Ofen unter dem Schreibtisch des Schriftstellers – ein früher Vorläufer moderner Fußbodenheizungen(!) – beweist auch diese Fensterfront Zolas Originalität und sein Bestreben, jedes Zimmer nach seinen persönlichen Wünschen und Bedürfnissen einzurichten. Eine Tatsache läßt sich allerdings nicht leugnen: All diese Besonderheiten und Eigentümlichkeiten der Ausstattung demonstrieren, daß Zola dem Luxus keineswegs abgeneigt war. Allerdings läßt sich seine Lebensweise in Médan besser nachvollziehen, wenn man auf seine bescheidenen Lebensverhältnisse in früheren Jahren zurückblickt, als er unter Armut und erheblichen Entbehrungen litt. Insofern läßt sich die spätere Lebensweise durchaus als Revanche an seinen früheren schlechten Lebensbedingungen auffassen.
Daß sich Zola zuweilen zu viele Freiheiten herausnahm, mag seine Liebesbeziehung zu Jeanne Rozerot belegen. Aus diesem Liebesverhältnis gingen zwei Kinder hervor: Denise und Jacques. Zola schaffte es, seiner Frau das Verhältnis mit der 28 Jahre jüngeren Frau drei Jahre lang zu verheimlichen. Angesichts eines solchen Betruges ist der Großmut Alexandrines, die die Situation letztendlich billigte, bewundernswert, vor allem zu dem Zeitpunkt, als sie nach dem Tode Jeannes die beiden Kinder adoptierte, damit sie den Namen ihres Vaters erhalten konnten und sie sie somit zu seinen legitimen Erben machte.
Angesichts der zahlreichen Interessen, der gesellschaftlichen und familiären Verpflichtungen des Schriftstellers stellt sich natürlich die Frage, wann Zola überhaupt noch Zeit fand, sich seinem schriftstellerischen Werk zu widmen. Vielleicht war es gerade die prekäre Familiensituation, die ihn dazu zwang, seine tägliche Arbeit und das familiäre Zusammensein, einerseits mit seiner Frau und seinen Gästen, andererseits mit Jeanne und den Kindern, durch einen klar geordneten Tagesrhythmus zu regeln. So ziert die Devise "Nulla dies sine linea" nicht ohne Grund die Wand über dem Kamin in seinem Arbeitszimmer. Zola setzte sich selbst zum Ziel, jeden Tag zwischen 9.00 und 13.00 Uhr mindestens vier bis fünf Seiten eines seiner Romane zu schreiben. Eine solche Selbstdisziplin ist sicherlich die unerläßliche Voraussetzung für ein Gesamtwerk von über 20 Romanen, deren Grundlage zudem noch die experimentelle Untersuchung gesellschaftlicher Bedingungen und Zusammenhänge ist. Den Plan für seine Genealogie der "Rougon-Macquart"-Romane hatte er allerdings schon mit 27 Jahren entworfen.
Die klare Linie spiegelt sich also nicht nur in Zolas Tagesrhythmus, sondern auch in seinem Werk wider. Durch die Schilderung sozialer Mißstände in den unterschiedlichsten Milieus wollte Zola zu ihrer Beseitigung beitragen. Dabei stellte er vor allem die bürgerliche Gesellschaft als Verantwortliche an den Pranger.
Zolas Gesellschaftskritik kommt nicht nur in seinen Romanen zum Ausdruck. Zahlreiche Anlässe im kulturellen und politischen Leben forderten ihn zu einer klaren Stellungnahme heraus. Auch hier war sein Engagement durch eine entschlossene Haltung, durch Geradlinigkeit und Kühnheit gekennzeichnet. So setzte er sich u.a. leidenschaftlich für die Malerei der Impressionisten und deren Akzeptanz in der Öffentlichkeit ein.
Die aber wohl bedeutendste Parteinahme stellt seine Anklageschrift zur Dreyfus-Affäre "J'accuse" dar. Kein Wunder, daß diesem Thema direkt zwei Räume seines Hauses gewidmet sind.
Zola wußte, daß er durch diesen tollkühnen Angriff seine Stellung als
angesehener Schriftsteller gefährdete.
Von der Unschuld Alfred Dreyfus´ jedoch überzeugt, schlug er auch hier
geradlinig den Weg ein, den er glaubte gehen zu müssen: den Weg der
Gerechtigkeit und Humanität.
Zolas Anklageschrift ist nicht nur deswegen in die Geschichte eingegangen, weil er dadurch die Wiederaufnahme der Untersuchungen in der Dreyfus-Affäre erreichte und klar gegen den von staatlicher Seite praktizierten Antisemitismus zu Felde zog, sondern weil hier zum ersten Mal ein bekannter Schriftsteller Frankreichs in einer politisch brisanten Situation öffentlich seine Stimme erhob und sich nicht scheute, die Verantwortlichen direkt beim Namen zu nennen. Darin besteht auch heute noch sein aktueller Stellenwert und Vorbildcharakter.
Zola erlebte die Rehabilitierung Dreyfus´ nicht mehr. Er starb im Jahre 1902 im Alter von 62 Jahren in seiner Pariser Wohnung in der rue Bruxelles an einer Kohlenmonoxidvergiftung, die durch einen verstopften Kaminabzug verursacht wurde. Bis heute kann nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, daß Fremdeinwirkung bei diesem Ereignis eine Rolle spielte, zumal sich Zola durch sein Engagement in der Dreyfus-Affäre zahlreiche Feinde auf seiten der Anti-Dreyfusards gemacht hatte.
Kein Zweifel, der Besuch in Médan hat uns den Menschen Émile Zola etwas näher gebracht. Den Schriftsteller Émile Zola und sein Werk lernt man jedoch nach wie vor am besten durch die Lektüre seiner Bücher kennen. Aber vielleicht hat selbst in dieser Hinsicht der Besuch etwas bewirkt, indem er einfach Neugier und Interesse weckte – für das Romanwerk eines großen Schriftstellers.
Ute Berning
Marivaux' Le jeu de l'amour et du hasard
Eine bemerkenswerte Inszenierung im Théâtre des Amandiers, Nanterre (27. Mai 1998)
Die
Ankündigung von Herrn Fricke vor Beginn der Vorstellung, das Stück Le jeu
de l'amour et du hasard von Marivaux habe eine Spieldauer von
zweieinhalb Stunden ohne Pause, versetzte die Teilnehmer dieser Exkursion wohl
zunächst in eine gewisse kollektive Verzweiflung, denn obwohl wir uns sehr
darauf gefreut hatten, hatten wir immerhin schon einen langen Tag mit
zahlreichen neuen Eindrücken und Informationen hinter uns. Die Befürchtung,
während des Stückes einzuschlafen (wie peinlich!), stand allen ins Gesicht
geschrieben!
Der Anblick der Bühne war zunächst etwas befremdlich. Sie war riesengroß, die Wände waren in Gelbtönen gehalten, und auf der Bühne verteilt standen einige Stühle. Die Szene wirkte etwas trostlos und unpersönlich.
Doch schon nach der ersten Szene war jegliche Müdigkeit verflogen. Die Energie, mit der Silvia die Bühne betrat, war einfach nur mitreißend, und der Zuschauer konnte gar nicht anders, als fasziniert die weitere Entwicklung der Geschehnisse auf der Bühne zu verfolgen, die räumlich optimal ausgenutzt wurde.
Das Hauptthema von Le jeu de l'amour et du hasard (1730) von Marivaux (1688-1763) ist die Entwicklung der Liebe. M. Orgon möchte seine Tochter Silvia mit Dorante, dem Sohn seines besten Freundes, verheiraten. Silvia und Dorante sind sich jedoch noch nie begegnet und sind beide nicht begeistert von der Idee ihrer Väter. So kommt Silvia auf die Idee, ihre Kleidung mit ihrer Zofe Lisette zu tauschen, um Dorante beobachten zu können. Aber Dorante hat die gleiche Idee und tauscht seine Kleidung mit seinem Diener Arlequin. M. Orgon und sein Sohn Mario wissen nicht nur von dem Plan Silvias, sondern, durch einen Brief von Dorantes Vater, auch von dem Plan Dorantes.
Doch schon nach der ersten Begegnung von
Silvia und Dorante kommt dieser so vermeintlich gute Plan ins Wanken, denn
anstatt sich für die Person zu interessieren, die in der Herrenkleidung steckt,
entwickeln sie Sympathie füreinander, ohne ihre wahre Identität zu kennen. Dieses
Interesse führt zu einem inneren Konflikt, denn ihr Herz sagt ihnen, wer der
richtige Partner für sie ist. Der Verstand hingegen sagt ihnen, daß es nicht
akzeptabel ist, sich für eine Person zu interessieren, die unter ihrem Stand
ist. Auch die beiden Diener in der Herrenrolle haben sich mittlerweile
ineinander verliebt, und nachdem M. Orgon Lisette sogar ermutigt, auf die
Anträge von Arlequin, dem scheinbaren Herrn, einzugehen, schwören sich Lisette
und Arlequin ewige Liebe. Silvia und Dorante haben mehr Probleme damit, dem Ruf
des Herzens den Vorzug zu geben, und schließlich ist es Dorante, der das Leiden
nicht mehr aushält und sich Silvia offenbart. Obwohl sie ihn eigentlich schon
für sich gewonnen hat, entscheidet sie sich dafür, das Spiel weiter zu treiben,
um ihren Triumph perfekt zu machen. Sie will von Dorante nicht nur hören, daß
er sie liebt, sondern sie will auch erreichen, daß er ihr, in der Rolle der
Dienerin, einen Heiratsantrag macht. Nachdem das geschehen ist, eröffnet auch
sie ihm, wer sie wirklich ist, und sowohl ihrer Hochzeit, als auch der Hochzeit
der Diener steht nichts mehr im Wege.
Die Komik in Marivaux‘ Stücken ist größtenteils eine Wortkomik, die sich vor allem in seinem besonderen Dialogstil äußert, den man "marivaudage" nennt. In diesem Dialogstil äußert sich der innere Konflikt zwischen Verstand und Gefühl, und dieser Konflikt wird vor allem komisch durch zweideutige Aussagen, die der Zuschauer durchschauen kann, da er mehr weiß als die Personen auf der Bühne. Auch die hervorragende Gestik und Mimik der Hauptpersonen, Silvia und Dorante, trägt dazu bei, daß ihr innerer Konflikt überzeugend dargestellt wird und erlaubt es dem Zuschauer, mit ihnen zu fühlen und gerührt zu sein, anstatt zu lachen.
Szenen, die die angespannte Stimmung wieder etwas auflockern, sind jene, in
denen die Diener ihre Auftritte haben. Besonders komisch war die Szene, in der
Arlequin in der Kleidung seines Herrn und Lisette in der Kleidung von Silvia
stecken und sie beim Knicks vor Arlequin fast nach hinten umfällt.
Am Ende des Stückes war uns jedoch klar, warum es zwischendurch keine Pause gab, denn jede Unterbrechung hätte den Spannungsbogen zerstört. Als bleibende Erinnerung an diesen Abend bleibt besonders die überzeugende Darstellung der inneren Zerrissenheit, in der sich Silvia und Dorante befanden. Auch nach über 250 Jahren ist dieses Stück noch fähig, seine Zuschauer zu rühren. Quel succès!
PS: Mehr über Marivaux und sein Theater erfahren konnten Interessierte in Herrn Frickes Proseminar im Wintersemester 1998/99: Le théâtre de Marivaux: lecture et interprétation.
Petra Kumschlies
Unterredung am Donnerstag, den 28 Mai 1998, 21bis, rue Claude-Bernard, 75242 Paris (5. Arr.), 10.00 h, mit Patrick Kéchichian, dem stellvertretenden Chefredakteur von Le Monde des Livres, einer freitags erscheinenden Literaturbeilage der seit 1944 bestehenden, sehr renommierten, unabhängigen französischen Tageszeitung Le Monde
Ein letztes Highlight der diesjährigen Paris-Exkursion bildete zweifelsohne die Unterhaltung mit Monsieur Kéchichian im modernen und großräumig angelegten Redaktionsgebäude von Le Monde.
Nachdem
wir, vom französischen Himmel eher benachteiligt, pudelnaß an der Redaktion von
Le Monde eingetroffen waren und uns aus Sicherheitsgründen zunächst
einer Leibesvisitation unterziehen lassen mußten, ging innerhalb des Gebäudes
für uns wieder die Sonne auf; und der herzliche Empfang durch M. Kéchichian
ließ uns die durch das Wetter verlorengegangene Wärme schnell wieder
zurückerlangen.
M. Kéchichian bot uns an, uns in seinem Büro so gut wie möglich häuslich niederzulassen. Nachdem zuerst wir uns bei ihm vorgestellt hatten, nahm auch er eine kurze Präsentation seiner eigenen Person vor, wonach er offiziell als adjoint von M. Jean Luc Doin, dem Chefredakteur, und als Vertreter für Mme Josyane Savigneau, die in Urlaub war, fungiert.
Organisation und Aufbau von Le Monde des Livres
Natürlich wollten wir uns auch über die Organisation und die prinzipielle
Gestaltung dieses wöchentlichen Suppléments informieren, zu der uns M.
Kéchichian folgendes erklärte: Es würden pro Woche ca. 40 Bücher vorgestellt.
Generell sei diese wöchentliche Beilage in zwei Sektionen untergliedert: zum
einen die literarische und zum anderen die Sektion, die sich vorwiegend mit
Essays befasse. Beide Sektionen setzten sich zumeist aus regelmäßigen Rubriken
zusammen. Die letzte Seite dieses hebdomadaire werde dabei stets dem
aktuellen Buchmarkt gewidmet, wobei man sich nicht ausschließlich auf Bücher
französischer Editionen beschränke.
Neben der Verfassung von eigenen Artikeln ist M. Kéchichian vor allem auch einer der Hauptverantwortlichen für die Redaktionsleitung sowie für das endgültige Layout der Beilage von Le Monde des Livres.
Praktische Redaktionsarbeit
Sicherlich hat sich außer uns schon so mancher die Frage gestellt, nach welchen
Kriterien und mit welcher Vorgehensweise eine engere Auswahl bei den
literarischen Zeitschriften unter den unzähligen, täglich neu erscheinenden
Werken auf dem Büchermarkt getroffen wird. Mittlerweile jedoch unterscheiden
wir uns von so manchem nur insofern ein bißchen, als wir auf diese Frage
prompt eine konkrete Antwort erhielten, die wir Ihnen selbstverständlich nicht
vorenthalten möchten.
Die Auswahlmethode erfolge in erster Linie nach einer empirischen
Vorgehensweise, die konkret so aussieht, daß ein Sekretär pro Woche 150 – 200
Bücher französischer Verlage, die in die grobe Vorauswahl gekommen sind,
auflistet, welche sodann je nach Spezialisierung und Fachkompetenz auf die
hauseigenen Redakteure und die sogenannten ca. 50 collaborateurs (freie
Mitarbeiter) verteilt werden, um eine engere Auswahl zu treffen.
Prinzipiell gilt für jedes Buch, das überhaupt zur näheren Betrachtung erwogen wird, die Grundvoraussetzung, daß es einerseits thematisch nicht zu spezifisch ausgerichtet sein darf, um ein allgemeines Publikum ansprechen zu können und daß es andererseits ein gewisses Bildungsniveau voraussetzt, weswegen allzu triviale Literatur oder les livres de gare, um es mit den Worten M. Kéchichians zu formulieren, in der Regel keinen Eingang in die nähere Auswahl erhalten.
Einmal wöchentlich wird eine Redaktionskonferenz abgehalten, stehend übrigens, wie es dem Ruf des Hauses geziemt, bei der sich die hausinternen Redakteure sowie die freien Mitarbeiter zusammenfinden, um ca. zwei Drittel der rund 150 –200 Bücher auszusortieren, sei es, daß sie zu präzise, sei es, daß sie zu wenig interessant erscheinen. In einer zweiten Runde werden dann von den Mitarbeitern zu den einzelnen Werken unterschiedliche Statements abgegeben, aus denen hervorgeht, welches Buch überhaupt einen Artikel meritiert und gegebenenfalls in welcher Größenordnung.
Liegen die einzelnen Diagnosen der Mitarbeiter allesamt vor, wird auf einer großen Tafel – die uns übrigens im Anschluß an unsere Unterredung von M. Kéchichian persönlich erläutert wurde – eine Art Grundentwurf für die nächste Ausgabe von Le Monde des Livres projektiert. Des weiteren werden neben diesen Versammlungen ebenfalls Gespräche mit einzelnen Verlagshäusern geführt, und persönliche Treffen mit einzelnen Verlegern und Schriftstellern bilden keine Seltenheit.
Gesellschaftliche Zukunftsperspektive in bezug auf die Buchliteratur
Gerade im Rahmen der unendlichen Spannweite multimedialer Kommunikation unserer
aktuellen Gesellschaft wird vor allem von Philologen immer wieder die Frage
nach der Zukunftsperspektive der Buchliteratur gestellt.
Sehr bemerkenswert fand ich den vom diesbezüglich allzu pessimistischen
Grundtenor – weder der Schriftsteller Claude Ollier noch der Repräsentant von
Gallimard maßen der Buchliteratur auch nur annähernd eine optimistische Zukunft
bei – abweichenden Standpunkt M. Kéchichians. Zwar sei eine eindeutige Tendenz
zu einem immer geringeren Leseinteresse festzustellen; jedoch sei dies ein
soziokulturelles Phänomen, das seiner Meinung nach in keinem Sachzusammenhang
mit der Qualität der Literatur stehe. Sicherlich gebe es prozentual zur
gesamten Buchliteratur nur einen geringen Anteil an qualitativ wertvoller und
lohnenswerter Literatur; gleichwohl sei diese Tendenz auch in früheren Epochen
immer auszumachen gewesen. Literatur verlange eben immer einen gewissen recul,
um ihren wahren Gehalt erkennen zu lassen.
Die positive Quintessenz der persönlichen Meinung M. Kéchichians, daß nämlich
unter der aktuellen Literatur ebenso verdienstvolle Werke zu finden seien wie
zum Beispiel zu Zeiten eines Balzac oder eines Goethe, sorge dafür, daß der
Lesedurst beim breiten Publikum zwar gemildert aber nie ganz gestillt sein
werde.
Le Monde des livres und das Phänomen journalistischer Dependenz
Selbstverständlich mußte sich auch M. Kéchichian der wohl klassischsten aller
Fragen einem Journalisten gegenüber unterziehen, nämlich inwieweit seine Redaktionstätigkeit
einer gewissen kommerziellen oder gesellschaftlichen Abhängigkeit unterliege.
M. Kéchichian gestand uns offen zu, daß auch bei ihm von einer völligen
Unabhängigkeit als Journalist keine Rede sein könne. Wenn er einen Artikel
verfasse, so müsse er immer dabei mitbedenken, zu welchem Zeitpunkt dieser
Artikel in der Wochenbeilage erscheine und welchen Einfluß dieser Artikel in
der öffentlichen Meinung bewirken werde. Diese Faktoren, die durchaus legitim
seien, führten für M. Kéchichian allerdings zu keiner Besorgnis auf
literarischer Ebene.
Es bestehe doch eine gewisse Solidarität zwischen den Verlagen und der Presse,
die er beim Verfassen seiner Artikel nicht ganz außer acht lassen könne, denn
er sei sich schon des nicht zu unterschätzenden, indirekten Einflusses seiner
Redaktionstätigkeit in bezug auf den Verkauf eines Buches bewußt.
Von diesen Rahmenbedingungen einmal abgesehen, sei M. Kéchichian allerdings
noch nie dazu veranlaßt worden, irgendetwas zu schreiben, mit dem er überhaupt
nicht konform gewesen sei.
Um beim Redigieren seiner Artikel eine so unabhängig wie möglich und damit eine
objektive Stellungnahme und Literaturkritik zu gewährleisten, zieht M.
Kéchichian es vor, keinen persönlichen Kontakt mit dem jeweiligen Schriftsteller
aufzunehmen.
Ein weiteres Redaktionsprinzip von Le Monde des Livres bildet die
Tatsache, daß man niemals die Werbung eines Buches in derselben Ausgabe
publiziert, in dem ein Artikel zu dem betreffenden Buch veröffentlicht wird.
Eine persönliche Kritik, die er sich und dem Redaktionsteam ehrlicherweise
zugestand, sei seiner Meinung nach der zu hoch bemessene Platz, der den Werken
aus den Reihen der eigenen Mitarbeiter gewidmet werde.
Persönliche Arbeitseinteilung M. Kéchichians
Bei der sehr humorvollen Beschreibung seiner wöchentlichen Arbeitseinteilung
konnten wir das ein oder andere Schmunzeln nicht unterdrücken, was darüber
hinaus auch damit zusammenhängen dürfte, daß bei seinem Wochenplan mit keiner
Silbe die uns als Studenten so liebgewonnene Freizeit besondere Erwähnung fand.
Seine journalistische Tätigkeit bei Le
Monde spalte sich in zwei Aufgabenbereiche. Von Montag Nachmittag bis
Donnerstag Abend kümmere er sich als Mitverantwortlicher um das Layout von Le
Monde des Livres; eine Arbeit, die er selbst in seiner bescheidenen Art als
travail de cuisinier charakterisiert. Von Freitag bis Sonntagabend wende
er sich der empirischen, d. h. der eigentlich literaturkritischen Arbeit zur
Lektüre, zu. Die eigentlichen Artikel verfasse er in der Zeit von Sonntag nach
22.00 Uhr und Montagvormittag, wobei er uns versicherte, daß er die Nächte
üblicherweise seinem Schlaf widme.
Seinen auf uns sehr stressig wirkenden Wochenplan verteidigte er mit dem Spaß, den ihm sein Beruf trotz aller Hektik bereite. Er selbst fühle sich par vocation zu diesem Beruf vorherbestimmt – für uns eine Einladung, in Zukunft Le Monde des Livres genauer als bisher zur Kenntnis zu nehmen.
Mike Heirich